Lost in Music

Lost in Music  von Sister Sledge  ist ein Song den ich mehrdeutig interessant finde. Ich selbst war in meinem Leben auch eine Zeit lang lost in music.  Musikalische Wellen wurden zum Transportmittel meiner Identität. Vielleicht kommt der straighte Gesangstext dieses Discohits deswegen so gut bei mir an. Viele von euch werden mit Disco vielleicht nicht viel anfangen können. Das macht überhaupt nichts. In diesem Artikel geht es sowieso nicht um Geschmack, schon garnicht um Musikgeschmack. Geschmack kann sich ändern, Aussagen bleiben bestehen. Was könnte die Aussage dieses Songs sein? Was sagt der Begleittext zur Musik? Mal schauen… Ahh, ja ja. Das groovt schon beim lesen:

We’re lost in music — Caught in a trap
No turnin‘ back — We’re lost in music

We’re lost in music — Feel so alive
I quit my 9 to 5 — We’re lost in music

Have you ever seen — Some people lose everything
First to go is their mind — huh
Responsibility To me is a tragedy
I’ll get a job some other time, uh-huh

I want to join a band — And play in front of crazy fans
Yes, I call that temptation

Give me the melody — That’s all that I ever need
The music is my salvation

Klare Statements, worauf es im Leben eines Musikers wirklich ankommt. Eigentlich sind diese Zeilen ein Glaubensbekenntnis. Da wird nichts anderes behauptet, als dass man bereit ist alles für die Musik aufzugeben, auch den Brotjob. Wo findet man diese Worte sonst in dieser Direktheit?

Die Stimme, die diesen Text singt, gehört Kathy Sledge,  gemeinsam mit ihren älteren, backround singenden Schwestern Debbie, Joni und Kim bildete sie die Band Sister Sledge.  Als Viererformation waren die Sledge Schwestern Ende der Siebzigerjahre eine feste Größe im Discogeschäft. Debbie, Joni, Kim und Kathy landeten mit Hilfe der eingängigsten Rhythm Section der damaligen Zeit, bestehend aus Nile Rodgers  and Bernard Edwards,  mehrere Top-Ten-Hits. Schaut man sich auf Youtube  um, taucht unter anderem ein Live-Videomitschnitt aus der britischen Chartshow Top of the Pops  auf. Ein Schritt rechts, ein Schritt links, Hands Up, Drehung, Hipshake, Handclap, dabei bitte immer Lächeln. Weitere Videoquellen bestätigen den Verdacht: Man hatte sich eine Choreografie für die Playback-Performance ausgedacht von der man wirklich nie abwich. Vielleicht darf man sich niemals Videomitschnitte alter Disco-Hits ansehen, wenn man sich eigentlich für die Musik interessiert. Beim Sichten des Videomaterials überkommt einen, neben der Begeisterung für den guten Groove, immer auch ein wenig Beklommenheit, ob der statischen Performance der Musiker, insbesondere der Sänger. Das ist – oder war – aber natürlich dem Imperativ Disco  geschuldet.

Seit den frühesten Tagen des Funk  war die sogenannte Tightness  ein wichtiges Qualitätsmerkmal der gesamten Band, allem voran natürlich der Rhytmus-Gruppe. Tight  sein, heißt nichts anderes, als den Groove akurat durchzuhalten, ohne über die Songlänge an Genauigkeit zu verlieren. In einer Funkband sind alle Mitglieder irgendwie Slave to the Rhythm,  der Rhytmus, bei dem jeder mit muss, wird zur Pflichtausübung. Es gibt insofern keine Individualisten, keine Stars, keine echte Selbstbestimmung. Diven vom Vormat einer Gloria Gaynor  täuschen ein wenig darüber hinweg: Eine weitere unbequeme Wahrheit über Disco ist, dass die Geschlechterrollen stramm definiert waren. Es heißt Produzentenmusik, nicht Produzentinnenmusik. Die Vocals sollten kein Eigenleben entwickeln, weibliche Performerinnen in erster Linie textsicher und schön anzuschauen sein. Worin liegt dann die Faszination dieser Musik? Die Antwort ist zugleich einfach und kompliziert: In der Selbstaufgabe. Die ständige Wiederholung des Themas und die monotone Wiederkehr des Beats ermöglichen es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren  —beim Tanzen. Scheinbar ist etwas im Wesen von uns Menschen angelegt, das möchte, dass der Beat immer weiter geht. Möglichst ohne Unterbrechungen. Dieses menschliche Urverlangen nach rhytmischer Wiederholung fällt glücklicherweise mit der Fähigkeit von Automaten zusammen, Vorgänge besonders gut wiederholen zu können. Wahrscheinlich konnte sich Disco nur mit Hilfe von Technologie weiterentwickeln. Erst wurden sie von Kraftwerk besungen, dann kamen die Musikroboter wirklich: In Form von Drum Machines  und Samplern. Disco wurde unwiderrufbar zu House und Techno. 

Die Botschaft des Kraftwerksongs Wir sind die Roboter  ist im Grunde identisch mit der Textaussage des Sister Sledge-Songs. We´re lost in Musik,  das klingt bei der sechzehnten Wiederholung so wunderbar mechanisch, dass ich fast ein bisschen enttäuscht war, als ich das Promovideo des Songs zum ersten Mal sah. Ich stellte mir beim Hören des Musikstücks im Radio nämlich immer vor, wie die Interpretinnen roboterhafte Bewegungen zur Musik machten. Kühl und sexy. Auf mich wirkte die Live-Performance der Sledge Schwestern bei Top of the Pops,  noch viel zu organisch. Ich wollte so gern schwarze Soulroboter sehen. Tippt man bei Youtube  »Black Soul Robots« ein, gelangt man zu Videos der Black Eyed Peas  (Imma Be Rocking That Body) und von Beoncé  (Single Ladies).

Fortsetzung folgt.

 

 

Komfortzone

Stefan nimmt einen Nagel aus seinem Mundwinkel und klopft ihn mit dem Hammer in den Rigips. Schon komisch. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hätte er sich nicht vorstellen können, genau diese Tätigkeit auszuüben. Wenn man sich als freischaffender Handwerker durchs Leben schlägt, muss man allerdings mit allem möglichen rechnen. »Reparaturen & Montagen aller Art«, steht auf seinem Firmenfahrzeug. Einem Lastenfahrrad mit einer mittig angebrachten, großen Aluminium-Kiste, seiner »mobilen Werkstatt«. Scherzhaft sagt er immer: „Da ist mein wichtigstes Werkzeug drin: Die Flexibilität.“ Seitdem Stefan seine Handwerkerseele regelmäßig über ein einschlägiges Internetportal veräußerte, hatte sich seine Auftragslage etwas stabilisiert, auch wenn seine Form der Selbstständigkeit immer noch ein junges Abenteuer war. Zu den wenigen Konstanten in Stefans Arbeitsleben gehörte Ulf Meinhardt. Durch die kleinen Aufträge, die er Stefan immer wieder verschaffte, wurde die Unvorhersehbarkeit seiner selbständigen Existenz ein wenig gemildert. Meinhardt war ein kunstliebender, pensionierter Oberstudienrat und kannte Gott und die Welt, auch in den sogenannten besseren Kreisen. Meinhards Netzwerk funtionierte tadellos, es gab immer etwas zu tun für den mehrfachbegabten Stefan. Jetzt stand er in dieser frisch renovierten Maisonettewohnung, auf einer langen Galerie, die mit einer Empore im Wohnzimmer endet. Die Eigentumswohnung war ein echtes Kleinod moderner Raumplanung. In einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus untergebracht, war von aussen nicht zu erahnen, dass es hier einen Lichtschacht gab, der die zwei obersten Stockwerke verband und in einer Tropenregen-Dusche mündete. Stefans Auftrag bestand darin, eine Auswahl von Bildern in der weitgehend identitätslosen Wohnung an den Wänden zu verteilen. Den Besitzer kannte Stefan nicht persönlich, Meinhardt hatte ihm den Schlüssel übergeben. Der Wohnungseigentümer hatte vorgearbeitet und die Bilder an ihrer zukünftigen Position an die Wand gelehnt. Was die Aufhängung betraf, hatte er seitens seines unbekannten Kunden, freie Hand. Stefan behauptete nicht von sich ein großer Kunstexperte zu sein. Er verließ sich bei der Hängung zu gleichen Teilen auf sein Harmonieempfinden und seinen Zollstock. Vorsichtig fädelt er das Bild mit den rückseitigen Ösen auf die zwei frisch eingeschlagenen Nägel. Es ist das letzte in der Reihe. Fünf der Rosenbooms hatte er in exakten Abständen an den Wänden des langen Flurs platziert. Stefan betrachtete sein Werk. Alles hing gerade. Die Rosenbooms waren kleine Originale, kaum größer als eine Schreibmaschinenseite. Öl und Tempera mit einem handbreiten Passepartout drumherum, im Alurahmen, hinter Glas. Die Bilder waren in angenehmen Pastellfarben komponiert, es war nicht ganz klar ob gegenständlich oder abstrakt. Sie erinnerten ihn an die Kunst, die man als Inventar von Arztpraxen kennt. Kunst, die Patienten beruhigen soll, oder ihnen Mut zusprechen —im Umgang mit dem eigenen Leiden und einer möglichen Zahnarzt-Phobie. Meinhardt hatte erwähnt, dass der Auftraggeber selbst ein Arzt war. Einen Behandlungsstuhl gab es hier nicht. Nur eine Kopie des Eames Loungechair,  dem bekannten Designklassiker. Stefan hatte den Sessel neugierig nach dem Logo des deutschen Markenherstellers abgesucht, als er es nicht endeckte nahm er in dem Ledersessel Platz. Der Loungechair  war ein verlässliches Distinktionsmittel. Auch die Kopie machte sich gut, neben der, mit einem grauen Wollstoff bezogenen Couchgarnitur, dem obligatorischen Glastisch, und dem unvermeidlichen Flokati. Man konnte sagen, dass sich hier sanfte Anzeichen von Luxus mit einer gewissen Profanität abwechselten. Statistisch gesehen, kam auf jeden Rosenboom ein quadratisches Ikea-Regal mit pflegeleichter, glatter Möbeloberfläche. Stefan versuchte sich ein Bild des Besitzers zu machen. Es gab nicht viele Hinweise auf seine Persönlichkeit. Da Ulf Meinhardt ihn zu seinem engeren Bekanntekreis zählte, konnte es gut sein, dass es sich um einen eloquenten, turnschuhtragenden Mittfünfziger handelte. Im oberen Geschoß, ganz am Ende der Galerie entdeckte Stefan schließlich erste Spuren des Bewohners. Zwei querformatige, gerahmte Fotos lehnten noch an einer Wand. Ein Bild zeigte einen etwa dreißigjährigen Mann beim Bergsteigen. Das andere Bild zeigte die gleiche Person, frontal aufgenommen, beim Kajak fahren. Stefan und der Unbekannte schienen also die gleichen Hobbies zu teilen. Stefan klopft mit dem Finger gegen die Wand. Diese Mauer bestand nicht aus Rigips, er würde wohl das eine oder andere Loch Bohren müssen, um die ersten Lebenszeichen zu befestigen.

 

Torwächterei

Manchmal muss man erst Bewertungen anderer Menschen über sich ergehen lassen, um zu erfahren wer man ist und wo man steht. Nein, ich meine nicht die üblichen, alltäglichen Vorurteile. Ich meine die richtig großen Hürden, über die man irgendwie hinweg muss. Die paar Prüfungen, die darüber entscheiden wie man in Zukunft einsortiert wird. Menschen lieben schnell erfassbare Kategorien. Eine genaue Berufsbezeichnung erleichtert den Vorgang des Einsortierens erheblich. Die individuelle Einschätzung macht zuviel Arbeit. Nicht ohne Grund haben öffentliche Bewertungen großen Unterhaltungswert. Alle Casting-Formate versetzen ihre Zuschauer in beide Rollen: In die des Bewertenden, aber auch die des Bewerteten. „Ich habe heute kein Bild für dich.“ Diese Worte können vernichtend sein. Vielleicht werden sie in Zukunft auch dann gesprochen, wenn Prüflinge das zweite Staatsexamen in Jura verkacken, passend wären sie allemal. Wer will schon ohne Selbstbild nach Hause gehen?

Für die wenigsten wird die Berufung zum Beruf. Die meisten von uns müssen sich durch harte Lehrjahre schlagen und am Ende durch Prüfungen. Auch ich musste mich schon durch derlei Prüfungen winden. Für aufstrebende Künstler, die sich an einer Kunsthochschule bewerben, kann leicht der ganze Lebensweg auf dem Spiel stehen. Das etwaige Nichtbestehen der Aufnahmeprüfung kann unter Umständen vorentscheidend sein. Das hat mit dem beschädigtem Selbstkonzept in Folge einer Ablehnung zu tun. Als Kunstschaffender ist der Glaube an das eigene Talent existentiell wichtig. Den Glauben an sich selbst aufrechtzuerhalten, fällt natürlich leichter, wenn andere ebenfalls davon überzeugt sind. Bei meiner ersten Bewerbung an einer Kunsthochschule wurde ich auch nicht gleich angenommen. Das war hart, aber ich wußte innerlich, dass ich noch nicht bereit war und dass ich beim nächsten Mal vielleicht schon bereiter sein werde. Zum Glück fand das zweite Prüfungskommitee meiner Wahl, die schweinsköpfige Darstellung meiner zukünftigen Professorenschaft genauso witzig wie ich. (Aufgabe: Menschen mit tierischen Zügen. Ich: Schweine mit Professorengesichtern.) Ein anderes Mal wurde in einer Aufnahmeprüfung von mir verlangt, mir eine Nudel für eine spezielle Zielgruppe auszudenken. Ich fand die Idee originell, eine Kreationisten-Hochzeitsnudel zu entwerfen. Ein doppelhelixförmiger Trauring, während eines ominösen Hochzeitsrituals in der Mitte zerbrochen werden sollte. Anscheinend fanden auch andere diesen Einfall so originell, wie ich selbst, weshalb ich zum zweiten Mal an einer Kunsthochschule studieren durfte. Und? Was ist aus mir geworden? Das wüßte ich langsam auch mal gerne. Einen einsortierungswürdigen Titel habe ich immer noch nicht. Die Leute in meiner Nachbarschaft sind einerseits ungeduldig und andererseits total überfordert. Die Einordnung würde mit einem Dr. der Lebenskunst oder einem vergleichbaren akademischen Grad viel leichter fallen. Was soll ich nur machen? Mancheiner kauft sich den Titel einfach. Das ist unkompliziert, macht weniger Arbeit und ist genauso wirkungsvoll. Es gab doch mal diesen Typen, der diverse hohe Ämter bekleiden durfte, bloss weil man es bei seiner Einstellung nicht so genau nahm, mit Tatsachen und Vorgaben. Was macht der eigentlich jetzt? Ist der schon Karriereberater, oder sitzt der noch ein paar Jahre auf einem Plastikmöbel im Foyer eines Arbeitsamts ab? Ein guter Bekannter hatte auch jahrelang Probleme mit der gesellschaftlichen Sortierungsanlage. Er: Erfolgreicher Absolvent im Fach BWL, super Benotung, jung, dynamisch, Deutschtürke. Wir rätselten beide jahrelang, warum das nicht klappen wollte, mit seinem Berufseinstieg. Sollte es etwa nur am letzten Wort in der Aufzählung liegen? Kann doch nicht sein, oder? Zum Glück haben die Arbeitsämter Eingliederungsquoten für den eigenen Personalbestand. Erdoran hat mir mal erzählt, er würde schon an der Art wie seine Klienten in sein Büro geschlichen kommen, erkennen, ob sie im nächsten Moment Mist erzählen, um doch noch an die gestrichenen Leistungen zu kommen. Ich schätze er hat im Leben selbst einfach genügend Ausreden gehört und enttarnt Lügen deshalb etwas schneller als seine Kollegen.

Designausstellung I

Denke ich an Holland, sehe ich die Bilder der alten Meister, die Schiffe beim Auslaufen zeigen, die endlose Weite einer Landschaft die quasi fießend ins Meer übergeht. Ich habe dabei den Geschmack von Karamelwaffeln und Spekulatius-Brotaufstrich auf der Zunge, beides bedeutende niederländische Erfindungen, neben Coffeeshops und Maasdamer Käse. Jedoch muß ich auch an weitaus weniger schöne Dinge denken, etwa an Frank Rijkaard der Rudi Völler während der WM 1990 in die Wolle rotzt. Tut mir leid, liebe Holländer, aber ich habe diesen Vorfall, den ich live am elterlichen Fernsehgerät mitverfolgen mußte, noch nicht vergessen können. Es waren Szenen, die sich im mein damals noch junges Gehirn eingebrannt haben, die ich leider nicht unseen  machen kann. Aber weiter im Text: Der Holländer beherrscht beides gleich gut: Pragmatismus einerseits und unkonventionelles Denken andererseits. Wer käme sonst auf die Idee einen Landstrich bewohnbar zu halten, der eigentlich unterhalb des Meeresspiegels liegt. Beides, Pragmatismus und Nonkonformität sind die Essenz guter Gestaltung. Kein Wunder also, dass irgendwann auch das sogenannte Dutch Design auf der Landkarte des guten Geschmacks auftauchte. Bis man das Städtchen Eindhoven auf der Landkarte findet, muss man allerdings mit dem Finger eine Weile lang suchen. Eindhoven war einst ein wichtiger Sitz der Elektronik-Branche in Europa. Kurz bevor japanische Branchenriesen den gesamten Mikroelektronikmarkt schluckten, entschied man sich bei Philips die Produktion nach Asien zu verlegen. Das führte zum Leerstand der ehemaligen Produktionsstätten in dem kleinen Örtchen. Da man dort auf soviel Industriebrache keine Lust hatte, entwickelten die findigen Holländer eine Art Strukturreformprogramm mit Schwerpunkt Design. Die ehemaligen Werkshallen wurden nach und nach zu Werkstätten kleiner und größerer Designbüros. Es ist in diesem Sinne nur konsequent, dass man in Eindhoven einmal im Jahr die Dutch Design Week veranstaltet, um die Welt in Kenntnis zu setzten, dass dort in den geräumigen Lofts interessante Dinge passieren. Mein Weg ins flache Nirgendwo führte mich zunächst per Bahn nach Köln, von dortaus ging es mit einem Bus weiter, meine Reise endete fast direkt vor der Kaderschmiede der holländischen Gestalterszene, der Design Akademie Eindhoven,  ebenfalls in einem umgenutzten ehemaligen Verwaltungsgebäude von Philips beheimatet. Mein kleiner Rundgang durch die Welt des Dutch Design beginnt genau hier.

Die Schüler dieser Ausbildungsstätte waren fleißig, überall in den hohen Räumlichkeiten, sind Gegenstände zu entdecken, die von Tatendrang und Eifer durchdrungen sind. Erstmal ankommen. Eine Tasse Kaffee mit Karamellwaffel später, nehme ich die Erzeugnisse der Absolventen unter die Lupe. Ganz egal, ob man nun aufblasbare Fahrräder braucht, oder Sitzmöbel aus marinem Material, geflochtenes Kletterseil als Stauraum für Krimskrams oder selbstgemachte Verbinder, um aus dem Holz-Imitat von Ikea etwas sinnvolles zu bauen: Hier weht der Geist gestalterischer Unbefangenheit. Nachdem eine Maasdamer-Stulle – als kleine Stärkung – ihren Weg in meinen Verdauungstrackt gefunden hat, gibt es eine kleine Führung durch die Produktionsstätte des bekannten Designers Piet Hein Eek. Bekannt wurde Eek mit einem Upcycling-Projekt: Stühle aus alten Fensterrahmen. Mittlerweile will anscheinend jeder Holländer auf so einem Sitzmöbel sitzen, weshalb in ganz Holland alte Fensterrahmen aufgetrieben werden müssen, um das Geschäft am laufen zu halten. In einer Halle ist zu beobachten, dass auch während der DDW die Fließbänder nicht stillstehen. Akribisch werden die Fensterrahmen zu drei mal drei Zentimeter großen Würfeln zersägt. Diese werden zu Beistelltischen verleimt und anschließend großzügig mit Epoxidharz übergossen. Um den Eindruck von Nachhaltigkeit zu erwecken, wurden mehrere Dutzend der leeren Harzeimer zu Skulpturen geschichtet. Zeit für richtiges Essen: Zum Glück wird hier überall Streetfood serviert, um einmal im Jahr eine kleine finanzielle Reserve zu bilden. Weiter gehts zum Hauptschauplatz: Den mächtigen ehemaligen Philips Maschinenhallen am Stadtrand. Die schiere Fülle von Artefakten dort macht einen ganz benommen. Immer wenn zu viel um mich herum los ist, werde ich ziemlich müde. Ich nehme auf einem wasserstrahlgeschnittenem Blechmöbel Platz und fange an zu dösen.

Designausstellung II

Sanft gleite ich ins Traumland, das Stimmengewirr um mich herum wird leiser und leiser. Vor meinem inneren Auge sehe ich wie sich die Werkshallen von Philips wieder mit den Original-Maschinen füllen. Emsige Arbeiter stellen ein Kasettenradio nach dem anderen her. Ich fühle mich, bei soviel Betriebsamkeit, richtig wohl hier, obwohl es nicht gut riecht in meinem Traum, durch Kunststoffverarbeitung und Zinnbad. Plötzlich löst sich das Fabrikationsszenario auf und es erscheinen Heerscharen von Jungdesignern, die damit beginnen, die eben frisch hergestellten Kofferradios auseinanderzunehmen, die Gehäuse zu schreddern und das Granulat zu heißen Kunststoffwürsten zu verarbeiten. Die Würste formen sie zu Sitzmöbeln, die unbequem aussehen und zu großen Lampenschirmen, die die Glühlampen fast komplett umschließen, sodass sie fast kein Licht mehr herauslassen. Dann wird es plötzlich extrem heiß in meinem Traum. Eine Art Glutlawine überrollt das Szenario. Ich flüchte mit den Designern ins Freie. Plötzlich ist alles weg. Der pyroklastische Strom, die Fabrikgebäude, die Designer. Unter meinen Füßen nur Staub. Als ich um mich schaue, sehe ich Menschen mit Tropenhelmen und Expeditionsoutfits. Manche von ihnen hocken in einer Grube und legen mit feinen Pinseln das sandige Erdreich frei. Ich gehe zu einer dieser Ausgrabungsstellen, finde mich selbst mit einem Pinsel in der Hand dort wieder. Ebenfalls damit beschäftigt dem Boden seine Geheimnisse zu entlocken. Etwas wird unter meinem Pinsel sichtbar. Etwas metallisches. Vorsichtig ziehe ich daran. Eine Brosche. Die feine geometrische Struktur verrät mir, dass es sich um einen parametrisch gestalteten, 3D-gedruckten Körper handelt. Bronce. Mir war noch garnicht klar, dass man Bronce 3D-drucken kann. Ich buddle weiter im Sand. Da ist noch etwas, es sieht aus wie der Rand eines Trinkgefäßes. „Späte Designzeit!“ Höre ich jemanden hinter mir sagen. „Wie…?“ „ Ja, das erkennt man an der Regelmäßigkeit des Bandzuges, das ist maschinell entstanden.“ Ich ziehe den Gegenstand aus dem Sand. „Zeigen sie mal her!“ Zögerlich drehe ich mich zu der Gestalt mit dem Tropenhelm um. „Nur zu!“ Lord Tropenhelmchen greift sich die Vase. „Schauen sie mal! Hier sieht man es ganz deutlich, viel zu gleichmäßig für Handarbeit, das ist 21. Jahrhundert. Die fanden das damals originell —handwerkliche Techniken auf CNC-gesteuerte Maschinen zu übertragen.“ „Wer die? “ „Na, die Designer von damals. Das war ja eine Epoche, die eigentlich mit Konsumprodukten übersättigt war. Wir rätseln allerdings noch darüber, was genau hinter der plötzlichen Blüte der Holländischen Designzeit  in der spätklassischen Phase steckt? Wir wissen nicht, ob es unbekannte Mäzene waren, die diese Handwerkskunst förderten, oder ob es eine von wirtschaftlichen Kreisläufen entkoppelte Wertschöpfung gab, die quasi zum Selbstzweck diese Artefakte produzierte? An keiner anderen Fundstelle außerhalb der Asche-Lawine, sind ähnliche Fundstücke aufgetaucht. —Tja, Früher war alles einfacher, da reichte ein Faustkeil, eine Amphore, ein Steigbügel oder ein versteinerter Apple Macintosh um die Welt zu erklären.“ Auf einmal fängt alles heftig zu wackeln an. „Das ist bestimmt ein Nachbeben! Nichts wie weg hier!“ Irgendetwas zieht an meinem Arm. Ich schlage wild um mich. „Mann bist du jetzt völlig behämmert!? Jetzt sind wir durch halb Europa gefahren und hast einen Pipedream,  oder was!?“ Ich habe die Augen wieder offen, schnappe noch nach Luft. Timo, mein Mitfahrer sitzt vor mir. Ich blicke um mich. Keine Glut, keine Asche, kein Staub mehr. Alles sieht wieder aus wie Jetztzeit. „Oh man, Timo! Ich bin wohl schon wieder einfach weggeknackt. Sorry, passiert mir einfach manchmal.“ „Na dann komm jetzt! Ich hab da hinten einen Typen entdeckt, der hat einen Industrieroboter zu einem Riesen-3D-Drucker umgebaut, der macht damit Lampenschirme und ganz coole Stühle aus altem Kunststoff.“