Wärme

Erinnert ihr euch noch an den Urknall? Das ist zwar schon eine Weile her, hat aber immer noch Auswirkungen auf unser tägliches Leben. Dinge, die es ohne BigBang  nicht geben würde: Sonnenbrand, Erderwährmung, Schwerkraft, Mondphasen, Radioaktivität, Populismus, Abgas-Skandale. Das mit dem Universum, glaube ich, war einfach nur Zufall. Anscheinend war damals irgendjemand unvorsichtig und kippte versehentlich die große Kiste mit den Grundbausteinen der Materie um. Das hat ziemlich gescheppert. Dann wurde es heiß: 10 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 00 Grad Kelvin. Während einiger, weniger Femtosekunden entstanden astronomisch viele kleine Elementarteilchen. Diese Ursuppe aus Teilchenplasma schwappte heiß und fettig durch den erst kürzlich entstandenen Raum. Dabei herrschte ein reges Kommen und Gehen. Protonen, Neutronen und die meisten ihrer Antiteilchen sagten kurz Hallo zueinander, bevor sie sich gegenseitig wieder auslöschten. Nur der milliardste Teil der frisch gebackenen Materie entging diesem Nullsummenspiel. Abgesehen von ein paar Exoten, die man heute mit Teilchenbeschleunigern jagt, verknoteten sich die meisten der übriggeblieben Kleinteilchen zügig zu den Elementen des Periodensystems. Erste Sternennebel waren schon nach wenigen Hundert Millionen Jahren zu sehen, nach einem kosmologischen Wimpernschlag sozusagen. Irgendwann, ein bisschen später, fing auch die Milchstrasse an durchs All zu wabern, mit unserem klitzekleinen Sonnensystem darin und diesem blauen Planeten samt seiner verschrobenen Bewohner. Die Wärme des Urknalls kann man übrigens noch heute messen —als kosmische Hintergrundstrahlung. Das sind ungefähr 3 Grad über absolut Null, etwa -270 Grad Celsius. Nicht besonders warm. Wenn man sich jedoch vorstellt, dass es sich um die Restwärme eines 13 Milliarden Jahre alten Ceran-Kochfeldes handelt, ist das ein respektabler Wert. Zum Glück sind noch ein paar Sonnen übrig, die ihre nähere Umgebung erhitzen. Globale Erwärmung hin oder her: Ohne unser Zentralgestirn wäre die Oberflächentemperatur unseres Heimatplaneten dem absoluten Nullpunkt ebenfalls sehr nahe. Was passiert, wenn man sich zulange abseits der großen Feuerstelle herumtreibt, sieht man an Pluto, dem äußersten Mitglied der sonnenumkreisenden Rundlinge. Der ist mit -240 °C nicht nur arschkalt, sondern auch seit 2006 kein Planet mehr. Runtergestuft: Zwergplanet.

Verlassen wir die kalte Gegend am Rande unseres Sonnensystems und wenden wir unsere Wäremerezeptoren den lauschigen Gefilden der beliebten Urlaubsinsel Mallorca zu. Dort sind sie noch gut zu erkennen, die unübersehbaren Auswirkungen des Energieerhaltungssatzes. Seit dem Urknall ist nämlich keine Energie mehr von irgendwoher dazugekommen. Sie verschwindet auch nicht nach ihrer Benutzung, sondern ändert einfach nur ihre Zustandsform. Ein Beispiel: Vor Urzeiten nutzten Algen die Sonnenernergie zur Photosynthese, nach einem erfüllten Algenleben sanken sie auf den Meeresgrund und wurden, nach und nach, von dicken Erdschichten überlagert. 500.000 Jahre später kommt jemand auf die Idee, nachzuschauen, was eigentlich aus den netten Algen geworden ist. Überraschender Weise stellt man fest, dass die Algen jetzt Erdöl sind. Das riecht zwar etwas komisch, man kann es aber prima zu Kerosin raffinieren und Urlaubsjets damit betanken. Mit den Urlaubsjets wiederum, kann man  Leute zum Sonnenbaden und Eimersaufen an den Ballermann fliegen. Man könnte sagen, dass sich die Zustandsform der Energie – über einen langen Umwandlungsprozess – in gute Laune transformiert hat. Die Energieerhaltungsgeschichte geht aber noch weiter: Denn am Morgen nach dem Besäufnis am Strand, wandelt sich die gute Laune erneut um – in einem handfesten Kater – und im Laufe des Tages werden die halbverdauten Stoffwechselprodukte der verkaterten Menschenkörper ungeklärt ins Mittelmeer geleitet. Dort sorgen sie in Zukunft für kräftiges Algenwachstum. Der Energiekreis schließt sich wieder.

Manchmal wird aus der Urknall-Wärme aber auch etwas komplett anderes. Dann wird aus der sonnenbeschienenen Liebe zweier Menschen ein kleiner neuer Erdenbürger. Papa und Mama päppeln den kleinen Neuling mit allerlei sonnenbestrahltem, vom Urknall indirekt erwärmtem Grünzeug groß. Dabei ensteht, neben den vielen Abbauprodukten, auch wieder jede Menge gute Laune. Morgens wenn sich die ganze Kleinfamilie, inklusive Hund, noch genüßlich im gemeinsamen Bett aneinanderkuschelt, muss ich manchmal daran denken, dass diese lauschige Wärmestrahlung schon 13,8 Milliarden Jahre alt ist, und dem Energieerhaltungssatz zufolge, wieder nur ihre Zustandsform gewechselt hat.

Frozen Yogurt

Alles was Bernd anpackt wird zu Gold. Auf dem Land sagt man: Der Teufel scheißt immer auf den gleichen Haufen. Wann das genau anfing, mit seiner Gewinnsträhne, ist nicht restlos geklärt. Schon als Kind hatte er ein bemerkenswertes Talent darin, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein paar Cent abzuzwacken. Jeder seiner drei Brüder ging bereitwillig für die Mutter einkaufen. Nur Bernd machte sich erst auf den Weg, wenn als Belohnung ein Geldstück in seiner kleinen Kinderhand warm wurde. Das brachte ihm den Spott seiner älteren Geschwister ein, aber auch die Erkenntnis, dass es für alles einen Lohn geben kann —wenn man darauf besteht. Da ihm die Geldvermehrung lag, machte sich Bernd bald in der Nachbarschaft nützlich. Ein bisschen Rasenmähen, eine Autowäsche hier, ein Einkauf dort. Sein erstes richtiges Geschäft tätigte Bernd im Verlagswesen. Er hatte entdeckt, dass es in unserer Gegend zwei konkurrierende Stadtmagazine gab. Kurzerhand begann er damit beide Magazine auf seiner Runde auszutragen und verdiente nun, bei gleicher Arbeit, das Doppelte. Lange bevor wir wußten wie man ein Konto eröffnet, hatte Bernd – neben dem üblichen Kindersparbuch – ein eigenes Girokonto. Er erntete damals nicht sofort Zuspruch während des Genehmigungsverfahrens vor seinen Eltern, konnte jedoch letztendlich durch die besseren Argumente überzeugen. Die Expansionsstrategie seiner Unternehmung erforderte einfach einen besseren Cashflow, als ihn ein Kindersparbuch leisten konnte. Wie jeder gute Geschäftsmann war Bernd früh darum bemüht, nicht nur für das Geld zu arbeiten, sondern auch das Geld  zur Arbeit zu schicken. Es ist eine bekannte Tatsache, das dies möglich ist, sobald man eine gewisse Menge davon übrig hat. Bei Bernd war dieser Moment im zarten Alter von 14 Jahren erreicht. Die Möglichkeit, in Kinderjahren zu Vermögen zu kommen, wird gemeinhin unterschätzt. Dabei sind die Wachstumschancen in frühen Teenagerjahren nicht nur auf den Bartflaum beschränkt. Sie sind auch aus geschäftsmännischer Sicht exzellent: Es gibt kaum Ablenkung, die Freuden zwischenmenschlicher Anziehung sind noch nicht entdeckt und werden auch noch eine Weile unentdeckt bleiben —falls man frühzeitig genug den Reizen der Geschäftswelt erlegen ist. Die Unterhaltskosten für Geschäftsräume werden bereitwillig von nahen Verwandten übernommen und man kann sich der allgemeinen Anerkennung der Erwachsenen sicher sein. (Kinder und Jugendliche, die gut mit Geld umgehen können, sind selten und der gute Umgang mit Geld hat im Allgemeinen den Status einer Tugend, was einen unbehelligten Betrieb des jungen Gewerbes garantiert.) Dennoch war die Überraschung einigermaßen groß, als eines Tages dieser nette Herr von der Bank bei den Sieberts vor der Haustür erschien —um mit Bernd über neue Anlagemöglichkeiten zu sprechen. Bernd hatte im richtigen Moment auf ein japanisches Unternehmen aus dem Bereich Unterhaltung gesetzt. Während seine Alterskameraden krampfhaft versuchten einander im Aufstöbern von geheimen Extralevels bei SuperMarioBrothers  zu übertrumpfen, erkannte Bernd schlicht das marktwirtschaftliche Potenzial des japanischen Herstellers der Videospielkonsolen. Bernd setzte den größten Teil seines Geschäftvermögens  auf die »Nintendo-Karte«. Seine Hoffnungen sollten sich bald erfüllen. Innerhalb nur eines Jahres verdreifachte sich der Börsenwert von Nintendo und kletterte von etwa 70 auf 240 Dollar pro Aktie. Kurz danach verfiel der Börsenkurs des Konsolenherstellers abrupt, was wahrscheinlich am fluktuativen Interesse der Zielgruppe lag. Da Bernd sein Geld dringend für weitere Investitionen brauchte, hatte er aber sein Aktienpaket rechtzeitig und aus schnödem Pragmatismus wieder abgestoßen. Dabei hatte er quasi zufällig die wichtigste Lektion erhalten, die man als Opportunist bekommen kann: Jede Chance bleibt ohne den richtigen Moment wertlos. Anfang der Nullerjahre, kurz nach seinem Nintendo-Coup, mußte er allerdings miterleben wie der sogenannte Neue Markt  zur tragischen DotCom-Blase  verschrumpelte. Dieser historische Vorgang hinterließ in Bernds Weltanschauung Spuren. Bernd merkte, Geschäfte waren nicht nur Zahlenspiele, sie waren psychologische Ereignisse. Es galt genau abzuwägen ob man lieber den Zahlen oder der eigenen Intuition trauen sollte. Eine seltsame Verunsicherung legte sich über seine seine Wahrnehmung. Es schien, als hätte er sein erst kürzlich gewonnenes Gespür für die inneren Zusammenhänge wirtschaftlicher Kausalität schon wieder eingebüßt. Er litt auf seltsame Weise mit, als die vielen neuen Startups mit den fantasievollen Namen, eins nach dem anderen Pleite gingen. Die andauernde Talfahrt des Aktienindexes schlug ihm aufs Gemüt. Bernd war fest entschlossen bei seinem nächsten Geschäft mehr auf die richtige Balance zu achten, zwischen Zahl und Gefühl.

 

Funkloch

Da wo ich aufgewachsen bin, wurde Suburbia potenziert. Wie sollte man eine, vom Ortskern eines Vororts weit entlegene Neubausiedlung sonst am besten nennen? Sub-Suburbia? Ich erinnere mich noch an jedes bauliche Detail meiner Kindheit. Waschbeton, Klinker und Rauputz waren die Grundzutaten des visuellen Feedbacks meiner nächsten Nachbarschaft. Das Leben am Rande der Grauzone hinterläßt jedenfalls mehr prägende Erfahrungen als man zunächst denkt. Die dauernde Reizdeprivation schärft die Sinne, für die Vorgänge hinter den repräsentativen, luftdichten Haustüren. Früh entwickelt man in einer derartigen Kulisse ein Gespühr, oder vielmehr eine Ahnung für soziale Strukturen. Die junge Kinderseele lernt, ob sie will oder nicht, ganz instinktiv, den Unterschied zwischen Freiheit und Hypothek.

Unsere Nachbarn auf der anderen Seite der Straße wohnten alle in riesigen verklinkerten Bungalows, mit steilen, gepflastereten Garagenauffahrten, hatten zwei Kinder und alle den gleichen Nachnahmen. Die Väter hatten alle Oberlippenbärte, die Mütter Dauerwellen. Sie waren alle Kleintierzüchter, CB-Funker oder beides. CB-Funk war damals The Shit. Irgendwer im Ort hatte mal damit angefangen, und kurze Zeit später brach das CB-Virus richtig heftig aus. Alle Kids, die es auf sich hielten, klammerten ihre Kinderfinger um Handfunkgeräte mittlerer Reichweite. Die Geräte wurden slangmäßig als Handgurken betitelt. Keiner ging mehr ohne Handgurke vor die Tür. Emsig wurden die Insider-Kürzel der CB-Szene gepaukt: „Hey, gib mir mal deinen QRB!“ (Wie weit bist du von mir weg?) „Ich versteh dich nicht, hab hier QSM.“ (Störungen) „Du hast bei mir einen S6, ich versteh dich gut.“ (Skala für Empfangsqualität) So hallte das Echo unserer einfachen kindlichen Technikbegeisterung von der einen Seite des Ortes zur anderen. Die mobile Kommunikation unserer Tage wäre soviel lebendiger, wenn der CB-Funk endlich wieder zum festen Bestandteil der Fernsprecherei würde. Man stelle sich nur vor, dass man eigentlich in jedes Gespräch der CB-funkenden Nachbarschaft einsteigen könnte, vorausgesetzt man hätte den richtigen Kanal gewählt. Das wäre total lauschig und würde die Leute wahrscheinlich näher zusammen bringen als Face-Book und Co. Alle wären quasi im Äther vereint. Als ich elf wurde, sind wir, also ich und meine Eltern aus der netten CB-Funk-Idylle weggezogen. In eine größere Stadt ausserhalb der Sendereichweite meiner alten Freunde. Die neue Umgebung war leider ein totales CB-Funkloch. Das war wirklich jammerschade. Die Kids in der Stadt interessierten sich nur für ihre Spielekonsolen und ihre Heimcomputer. Zugegeben, das war – auch für mich – eine interessante bunt-flimmernde Welt, aber so ursprünglich und unmittelbar wie der gute, alte analoge CB-Funk, war danach keine andere elektronische Technologie mehr für mich. Das hat, so glaube ich, mit dem Mythos analoger Fernmeldetechnik zu tun, der immer etwas anachronistisch-abenteuerliches hat. In meiner Privatbibliothek befindet sich ein Buch über Piratensender, inklusive von Bauanleitungen für Sendeverstärker und Antennen. Ohrenzeugenberichte der illegalen Sendebetriebe sind dort genauso dokumentiert, wie das obligatorische Katz und Mausspiel mit der Besatzung der Peilwagen. Ich liebe dieses Buch, weil es die gestorbene Technik so lebendig hält. Ob es heutzutage überhaupt noch Peilwagen gibt, um übermäßig starke FM-Privatsender aufzuspüren? Mit jedem Schritt meiner persönlichen Digitalisierung verlor meine junge Seele ihre Unschuld. Mit dem Kauf meines ersten Mobiltelefons, war es endgültig um mich geschehen. Ich weiß es noch genau, es war eins von diesen PrePaid-Handys in Form einer Fernsehfernbedienung. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, schon damals, auch ohne Knebelvertrag. Ich wußte, etwas passiert mit mir. Etwas, das meine innere Reinheit für immer beschmutzen würde. Seitens der Mobilfunkkonzerne, gab es damals ein unglaublichs Geschacher um die Mobilfunklizenzen. Schnell konnte man die Ahnung bekommen, dass es sich wohl um die einschneidenste Art der Geldvermehrung handeln musste, die mit menschlichen Gewohnheiten einhergehen kann. Das ist natürlich lange, lange her. Seitdem ist die Welt immer kleiner geworden, jetzt passt das Wissen der Menschheit in die Jackentasche. Das wichtige Gefühl der Unerreichbarkeit ist schon fast ausgestorben. Nur noch selten gerät man in Gegenden, in denen man keinen Handy-Empfang hat. Manchmal wünsche ich mir das atmosphärische Rauschen und den schlechten CB-Empfang zurück. Um noch einmal die Vorfreude auf das Unberechenbare zu spüren: Einen guten Freund, fünf Kilometer entfernt, der mich hoffentlich  im Laufe des Tages mit einem X  (der Funkereinladung) zum Gespräch bittet. Over and out.

Komfortzone

Stefan nimmt einen Nagel aus seinem Mundwinkel und klopft ihn mit dem Hammer in den Rigips. Schon komisch. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hätte er sich nicht vorstellen können, genau diese Tätigkeit auszuüben. Wenn man sich als freischaffender Handwerker durchs Leben schlägt, muss man allerdings mit allem möglichen rechnen. »Reparaturen & Montagen aller Art«, steht auf seinem Firmenfahrzeug. Einem Lastenfahrrad mit einer mittig angebrachten, großen Aluminium-Kiste, seiner »mobilen Werkstatt«. Scherzhaft sagt er immer: „Da ist mein wichtigstes Werkzeug drin: Die Flexibilität.“ Seitdem Stefan seine Handwerkerseele regelmäßig über ein einschlägiges Internetportal veräußerte, hatte sich seine Auftragslage etwas stabilisiert, auch wenn seine Form der Selbstständigkeit immer noch ein junges Abenteuer war. Zu den wenigen Konstanten in Stefans Arbeitsleben gehörte Ulf Meinhardt. Durch die kleinen Aufträge, die er Stefan immer wieder verschaffte, wurde die Unvorhersehbarkeit seiner selbständigen Existenz ein wenig gemildert. Meinhardt war ein kunstliebender, pensionierter Oberstudienrat und kannte Gott und die Welt, auch in den sogenannten besseren Kreisen. Meinhards Netzwerk funtionierte tadellos, es gab immer etwas zu tun für den mehrfachbegabten Stefan. Jetzt stand er in dieser frisch renovierten Maisonettewohnung, auf einer langen Galerie, die mit einer Empore im Wohnzimmer endet. Die Eigentumswohnung war ein echtes Kleinod moderner Raumplanung. In einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus untergebracht, war von aussen nicht zu erahnen, dass es hier einen Lichtschacht gab, der die zwei obersten Stockwerke verband und in einer Tropenregen-Dusche mündete. Stefans Auftrag bestand darin, eine Auswahl von Bildern in der weitgehend identitätslosen Wohnung an den Wänden zu verteilen. Den Besitzer kannte Stefan nicht persönlich, Meinhardt hatte ihm den Schlüssel übergeben. Der Wohnungseigentümer hatte vorgearbeitet und die Bilder an ihrer zukünftigen Position an die Wand gelehnt. Was die Aufhängung betraf, hatte er seitens seines unbekannten Kunden, freie Hand. Stefan behauptete nicht von sich ein großer Kunstexperte zu sein. Er verließ sich bei der Hängung zu gleichen Teilen auf sein Harmonieempfinden und seinen Zollstock. Vorsichtig fädelt er das Bild mit den rückseitigen Ösen auf die zwei frisch eingeschlagenen Nägel. Es ist das letzte in der Reihe. Fünf der Rosenbooms hatte er in exakten Abständen an den Wänden des langen Flurs platziert. Stefan betrachtete sein Werk. Alles hing gerade. Die Rosenbooms waren kleine Originale, kaum größer als eine Schreibmaschinenseite. Öl und Tempera mit einem handbreiten Passepartout drumherum, im Alurahmen, hinter Glas. Die Bilder waren in angenehmen Pastellfarben komponiert, es war nicht ganz klar ob gegenständlich oder abstrakt. Sie erinnerten ihn an die Kunst, die man als Inventar von Arztpraxen kennt. Kunst, die Patienten beruhigen soll, oder ihnen Mut zusprechen —im Umgang mit dem eigenen Leiden und einer möglichen Zahnarzt-Phobie. Meinhardt hatte erwähnt, dass der Auftraggeber selbst ein Arzt war. Einen Behandlungsstuhl gab es hier nicht. Nur eine Kopie des Eames Loungechair,  dem bekannten Designklassiker. Stefan hatte den Sessel neugierig nach dem Logo des deutschen Markenherstellers abgesucht, als er es nicht endeckte nahm er in dem Ledersessel Platz. Der Loungechair  war ein verlässliches Distinktionsmittel. Auch die Kopie machte sich gut, neben der, mit einem grauen Wollstoff bezogenen Couchgarnitur, dem obligatorischen Glastisch, und dem unvermeidlichen Flokati. Man konnte sagen, dass sich hier sanfte Anzeichen von Luxus mit einer gewissen Profanität abwechselten. Statistisch gesehen, kam auf jeden Rosenboom ein quadratisches Ikea-Regal mit pflegeleichter, glatter Möbeloberfläche. Stefan versuchte sich ein Bild des Besitzers zu machen. Es gab nicht viele Hinweise auf seine Persönlichkeit. Da Ulf Meinhardt ihn zu seinem engeren Bekanntekreis zählte, konnte es gut sein, dass es sich um einen eloquenten, turnschuhtragenden Mittfünfziger handelte. Im oberen Geschoß, ganz am Ende der Galerie entdeckte Stefan schließlich erste Spuren des Bewohners. Zwei querformatige, gerahmte Fotos lehnten noch an einer Wand. Ein Bild zeigte einen etwa dreißigjährigen Mann beim Bergsteigen. Das andere Bild zeigte die gleiche Person, frontal aufgenommen, beim Kajak fahren. Stefan und der Unbekannte schienen also die gleichen Hobbies zu teilen. Stefan klopft mit dem Finger gegen die Wand. Diese Mauer bestand nicht aus Rigips, er würde wohl das eine oder andere Loch Bohren müssen, um die ersten Lebenszeichen zu befestigen.