Es ist die stille Erkenntnis, die unter den Ernährungsexperten niemand gerne ausspricht: —Gesunde Ernährung läßt sich nur mit ganz viel Süßkram aushalten! Zucker, diese kristallgewordene Lebensfreude, ist der heimliche Motor unserer Gesellschaft. Neben ihm spielen die ganzen anderen Drogen nur eine sehr untergeodnete Nebenrolle. Was wären wir nur ohne Zucker? Ein müder und umotivierter Haufen von Spaßbremsen. Zum Glück kommt das süße Gift in jedem industriell hergestellen Produkt in ausreichender Menge vor, so dass man sich über mangelnden Nachschub keine Gedanken machen muss. Auch für Öko-Freaks wie mich gilt: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit darf eine Tafel Schokolade mit in den Einkaufswagen. Später taucht sie dann ganz beiläufig wieder auf dem Warenförderband an der Kasse im Bioladen auf, zwischen dem Bio-Gemüse, der Hafermilch und den ganzen nachhaltigen Cerealien. Eltern wissen: Nichts ist schlimmer als langweilige Kinder. Zucker kann dabei helfen auch das besonnendste Kind in einen nervtötenden, hyperaktiven Bastard zu verwandeln. Nachgiebige und wohlmeinende Großeltern tun ihr Übriges, um auch die Kleinsten sorgsam an die süße Droge heranzuführen und ihnen ein Leben ohne den Süßstoff undenkbar zu machen. Auch ich, als gut behütetes Landkind, widmete einen gewissen Teil meiner Freizeit der Süßigkeitenbeschaffung. In der Nähe des kleinen Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, gab es einen mystischen Ort für Kinder mit einem Faible für Zuckerkalorien. Es handelte sich dabei um eine schummrige Lagerhalle neben einem Schweinemastbetrieb, in der die Erzeugnisse der Süßwarenindustrie endeten nachdem sie ihr Verfallsdatum überschritten hatten oder sonstwie aus dem Sortiment geflogen waren. Ein befreundeter Bauernjunge, mit dem ich gemeinsam die Grundschule besuchte, berichtete mir von der Existenz dieses heiligen Grals – unter höchster Geheimhaltung – und vorgehaltener Kinderhand. Damals, während ich vor ihm noch mit meiner Abscheu prahlte: „Igitt, wie eklig, das ist bestimmt nur Schweinefutter!“, plante ich innerlich längst die Expedition an die äußersten Grenzen des guten Geschmacks.
Ich sehe sie noch lebendig vor mir, die Bilder aus der bittersüßen Hölle: Berge von Mozartkugeln, Fruchtgummi, gefüllter Vollmilchschokolade. Alles originalverpackt. (Die Verpackung fraßen die Schweine einfach mit auf.) Was nicht gerade unter den Reifen des Radladers zerquetscht wurde, mit dem der Bauer sein Viehfutter zu den Futtertrögen abtransportierte, sah mit zugekniffenen Augen noch fast so aus wie im Supermarktregal. Zugegeben, der genießbare Originalzustand kam unter diesen Bedingungen kaum noch vor. Dazu hunderte Wespen, die die kaloriengeschwängerte Mangelware umkreisten und der dezent stechende Geruch von Schweineexkrementen. Ich erinnere mich noch genau an meinen Zwiespalt: Auf der einen Hand, die für einen Grundschüler absolut verlockende und einmalige Begebenheit: Berge von Süßigkeiten für Umme, einmal der King sein im Kinderschlaraffenland —geil, aber auf der anderen Seite der Verdacht, am Ende doch nicht so cool dazustehen, weil man das den Schweinen quasi vor der Schnauze weggeklaut hat, was ja eigentlich total peinlich ist. Wollte ich mich wirklich mit den dreckigen, grunzenden Gefangenen dieses Schweineknasts auf eine Stufe begeben? Mich ans bittere Ende der langen Verwertungskette für schäbigen, angeranzten Sükram begeben? Lohnte es sich wirklich alle Hemmungen fallen zu lassen, für ein paar Tafeln halbzermatschter Schokolade mit ekliger Erdbeer-Füllung und eine Handvoll angestoßener, überlagerter Mozartkugeln? Ich überlegte kurz: —Ja, das war es wert! In diesem Moment wurde ich selbst zum Schwein —es war mir egal. Furchtlos ignorierte ich alle überlebenswichtigen Instinkte, die man als kleiner Junge haben kann, bahnte mir meinen Weg durch die umherschwirrende Wespenpopulation und stopfte mir alles was noch halbwegs essbar aussah in die Jackentaschen. Wieder zuhause, holte mich schnell die Ernüchterung ein: Mozartkugeln als typisches Oma-Naschwerk, schmeckten wahrscheinlich auch frisch nicht besonders fresh und der schweinische Beigeschmack, den die widerliche Erdbeer-Schokolade mittlerweile angenommen hatte, wollte sich auch nicht verziehen. Ich musste jetzt tapfer sein: Es war meine Beute, jedoch teilen konnte ich sie nicht —aus Scham vor den anderen Kindern. Die schnöde Entsorgung solcher Schätze in den Hausmüll kam nicht in Frage. Ich musste da alleine durch. Eine gute Woche brauchte ich, um die Spuren meiner Schande zu verwischen. Stück für Stück, Bissen für Bissen. Am Ende behielt ich noch eine Packung Mozartkugeln übrig —für den Geburtstag meiner älteren Schwester.