Arschbombe

Glaubt man Forschern, die sich mit der frühzeitlichen Entwicklung der Spezies Mensch befassen, ist der Aufenthalt in der Nähe von Gewässern ein ziemlich typisches Verhalten für unsere Gattung. Obwohl diese Theorie noch relativ neu ist (vorher wurden die Vorfahren der Frühmenschen als aufrechtgehende Steppenbewohner eingeschätzt), scheint sie auch aus der Beobachtung heutiger Verhaltensweisen heraus, mehr als plausibel zu sein. Meiner Freizeitforschermeinung nach, reicht ein Gang ins Freibad völlig aus, um die sogenannte Wat-Affen-Hypothese zu bestätigen. Bevor ich mich eingehender mit unserer äffischen Herkunft auseinandersetzte, dachte ich auch immer dass die nach aussen gewölbten Speckstulpen, die manch einen Menschenkörper so walrosshaft erscheinen lassen, eher ein modernes Phänomen seien. Die Paläobiologie dagegen, kann (auch ganz im Sinne der Wasseraffentheorie) rational und nüchtern erklären, warum es sich bei den Massen von Unterhautfettgewebe um eine evolutionäre Anpassung an den feuchten Lebensraum handelt. Wenn man so zum Drübernachdenken angeregt wird, ist alles sehr einleuchtend, denn Fett isoliert natürlich hervorragend gegen die Kälte bei der Bewegung im Wasser. Auch die nach unten geöffneten Nasen und die noch latend vorhandenen Schwimmhäute zwischen Zehen und Fingern, sollen Überbleibsel aus der nassen Frühphase des Menschen sein, genauso wie die Notwendigkeit des Watens in offenen Gewässern anscheinend der Ursprung unseres aufrechten Gangs ist. Mit diesem Wissenshintergrund macht plötzlich alles wieder Sinn. Ich drehe mich auf meiner Badematte um, und schaue mir die Großfamilie mit dem kruden Bodymass-Index, die neben mir ein Schwimmbadpicknick abhält, nochmal etwas genauer durch die Brille der Wissenschaft an. Hier an Land wirken sie noch etwas behäbig, aber gleich, sobald sie sich mit den notwendigerweise gut gefüllten Energiereservoirs im Unterhautgewebe in Richtung des Erwachsenenschwimmbeckens bewegen werden, wird sich das Bild ändern. Sie werden einigermaßen elegant und von der lästigen Schwerkraft befreit in ihre vertraute Wasserwelt gleiten. Sie werden auf dem Grund des Schwimmbeckens nach Muscheln und anderen nahrhaften Krustentieren tauchen, am Beckenrand nach vitaminreichem Meertang fischen und direkt unter dem Sprungturm kollektiv auf Jagt nach Fraßfeinden gehen. Noch während ich versuche meine restliche Vorstellungskraft zu bemühen, um auf die eine oder andere Beobachtung vorbereitet zu sein, schlägt ein ein vertikal fallender Menschenkörper mit dem Hintern zuerst in der Wasseroberfläche ein, die eben noch vor Krokodilen wimmelte. Scheinbar handelt es sich beim Sprung vom Dreimeterbrett um die unverzichtbare Hauptattraktion für junge Männer. Die Wasserfläche wird an diesem Nachmittag nicht mehr ruhig bleiben, in einer endlosen Abfolge von Sprüngen ins kühlende Nass. Als ich sehe wie oft meine Geschlechtsgenossen, wahrscheinlich auch aus Inponiergehabe heraus, ihre Körper mit vergeigten Schrauben und über- oder unterdrehten Flips quer ins Wasser hauen, fange ich an über den Sinn von Körperspannung und Koordination beim Turmspringen nachzudenken —und über das Jagen.

Waren Männer jemals in der Lage, ihre Sippen als erfolgreiche Jäger zu ernähren? Vieles deutet darauf hin, dass es die Menschheit höchstwahrscheinlich nicht bis hier ins Freibad geschafft hätte, wenn nicht die Frauen ihrerseits mit ihren Kenntnissen über pflanzliche Ernährung dafür gesorgt hätten, dass jeder etwas zu beissen hat. Ich habe mal so eine Urwaldvolk-Doku gesehen, auch da gingen die Männer auf die Jagt. Anders als man meinen könnte, spielten seltsame Männerrituale und halluzinogene Drogen, die tief im Dschungel eingenommen wurden, dabei eine große Rolle. Als die Jäger nach einer Woche ohne Beute und mit mächtig Kohldampf heimkehrten (den einen erlegten Affen hatten die Jungs gleich im Urwald gegrillt und gegessen), waren die starken Kerle heilfroh, dass die Frauen ein aus Wurzeln und Waldfrüchten bestehendes Willkommensmenü bereithielten. Meine Gedanken schweifen zurück ins gechlorte Wasser. Schwimmbäder sind natürlich nicht nur Orte für Artenforschung, sie sind wahrscheinlich der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Mir scheint es, als ob die Fähigkeit zu gegenseitiger Toleranz zunimmt, je voller ein Schwimmbecken ist. Egal ob nun Baba oder Papa, solange man mit den Kindern im gleichen Wasser planscht, ist die kulturelle oder soziale Herkunft egal. Den Fettreserven und Schwimmhäuten sei Dank.

Schwein sein

Es ist die stille Erkenntnis, die unter den Ernährungsexperten niemand gerne ausspricht: —Gesunde Ernährung läßt sich nur mit ganz viel Süßkram aushalten! Zucker, diese kristallgewordene Lebensfreude, ist der heimliche Motor unserer Gesellschaft. Neben ihm spielen die ganzen anderen Drogen nur eine sehr untergeodnete Nebenrolle. Was wären wir nur ohne Zucker? Ein müder und umotivierter Haufen von Spaßbremsen. Zum Glück kommt das süße Gift in jedem industriell hergestellen Produkt in ausreichender Menge vor, so dass man sich über mangelnden Nachschub keine Gedanken machen muss. Auch für Öko-Freaks wie mich gilt: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit darf eine Tafel Schokolade mit in den Einkaufswagen. Später taucht sie dann ganz beiläufig wieder auf dem Warenförderband an der Kasse im Bioladen auf, zwischen dem Bio-Gemüse, der Hafermilch und den ganzen nachhaltigen Cerealien. Eltern wissen: Nichts ist schlimmer als langweilige Kinder. Zucker kann dabei helfen auch das besonnendste Kind in einen nervtötenden, hyperaktiven Bastard zu verwandeln. Nachgiebige und wohlmeinende Großeltern tun ihr Übriges, um auch die Kleinsten sorgsam an die süße Droge heranzuführen und ihnen ein Leben ohne den Süßstoff undenkbar zu machen. Auch ich, als gut behütetes Landkind, widmete einen gewissen Teil meiner Freizeit der Süßigkeitenbeschaffung. In der Nähe des kleinen Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, gab es einen mystischen Ort für Kinder mit einem Faible für Zuckerkalorien. Es handelte sich dabei um eine schummrige Lagerhalle neben einem Schweinemastbetrieb, in der die Erzeugnisse der Süßwarenindustrie endeten nachdem sie ihr Verfallsdatum überschritten hatten oder sonstwie aus dem Sortiment geflogen waren. Ein befreundeter Bauernjunge, mit dem ich gemeinsam die Grundschule besuchte, berichtete mir von der Existenz dieses heiligen Grals  – unter höchster Geheimhaltung – und vorgehaltener Kinderhand. Damals, während ich vor ihm noch mit meiner Abscheu prahlte: „Igitt, wie eklig, das ist bestimmt nur Schweinefutter!“, plante ich innerlich längst die Expedition an die äußersten Grenzen des guten Geschmacks.

Ich sehe sie noch lebendig vor mir, die Bilder aus der bittersüßen Hölle: Berge von Mozartkugeln, Fruchtgummi, gefüllter Vollmilchschokolade. Alles originalverpackt. (Die Verpackung fraßen die Schweine einfach mit auf.) Was nicht gerade unter den Reifen des Radladers zerquetscht wurde, mit dem der Bauer sein Viehfutter zu den Futtertrögen  abtransportierte, sah mit zugekniffenen Augen noch fast so aus wie im Supermarktregal. Zugegeben, der genießbare Originalzustand kam unter diesen Bedingungen kaum noch vor. Dazu hunderte Wespen, die die kaloriengeschwängerte Mangelware umkreisten und der dezent stechende Geruch von Schweineexkrementen. Ich erinnere mich noch genau an meinen  Zwiespalt: Auf der einen Hand, die für einen Grundschüler absolut verlockende und einmalige Begebenheit: Berge von Süßigkeiten für Umme, einmal der King sein im Kinderschlaraffenland —geil, aber auf der anderen Seite der Verdacht, am Ende doch nicht so cool dazustehen, weil man das den Schweinen quasi vor der Schnauze weggeklaut hat, was ja eigentlich total peinlich ist. Wollte ich mich wirklich mit den dreckigen, grunzenden Gefangenen dieses Schweineknasts auf eine Stufe begeben? Mich ans bittere Ende der langen Verwertungskette für schäbigen, angeranzten Sükram begeben? Lohnte es sich wirklich alle Hemmungen fallen zu lassen, für ein paar Tafeln halbzermatschter Schokolade mit ekliger Erdbeer-Füllung und eine Handvoll angestoßener, überlagerter Mozartkugeln? Ich überlegte kurz: —Ja, das war es wert! In diesem Moment wurde ich selbst zum Schwein —es war mir egal. Furchtlos ignorierte ich alle überlebenswichtigen Instinkte, die man als kleiner Junge haben kann, bahnte mir meinen Weg durch die umherschwirrende Wespenpopulation und stopfte mir alles was noch halbwegs essbar aussah in die Jackentaschen. Wieder zuhause, holte mich schnell die Ernüchterung ein: Mozartkugeln als typisches Oma-Naschwerk, schmeckten wahrscheinlich auch frisch nicht besonders fresh und der schweinische Beigeschmack, den die widerliche Erdbeer-Schokolade mittlerweile angenommen hatte, wollte sich auch nicht verziehen. Ich musste jetzt tapfer sein: Es war meine Beute, jedoch teilen konnte ich sie nicht —aus Scham vor den anderen Kindern. Die schnöde Entsorgung solcher Schätze in den Hausmüll kam nicht in Frage. Ich musste da alleine durch. Eine gute Woche brauchte ich, um die Spuren meiner Schande zu verwischen. Stück für Stück, Bissen für Bissen. Am Ende behielt ich noch eine Packung Mozartkugeln übrig —für den Geburtstag meiner älteren Schwester.

lost and found

Bei meinem Cousin Tobias handelt es sich um eine sagenumwobene Gestalt meiner weitverzweigten Großfamilie. Seit zwei Jahrzehnten wollte ich mich immer mal wieder mit ihm treffen. Jetzt ist es wirklich passiert. In jeder größeren Familie gibt es bestimmte Triebe, die etwas abseitig aus dem Astwerk herausragen und der Muse zugewandt, andere Wellenlängen des Sonnenlichts einfangen. Damals keimte in mir die Vermutung, in meinem zwanzig Jahre älterern Cousin nicht nur einen Verwandten und Geistesverwandten zu finden, sondern eventuell auch ein Alter Ego. Jemanden, der mir die Welt besser erklären könnte, als ich selbst dazu in der Lage war. Leider war ich dann doch nur auf mich selbst und ein paar gute Freunde gestellt, bei der Erkundung der unbekannten Landmassen meiner Jugend. Trotzdem zeigte sich bei unserem leicht verspäteten Treffen, dass ich möglicherweise nicht ganz falsch lag, mit dem sehr naheliegenden Verdacht, neben der rein verwandschaftlichen Beziehung, auch soetwas wie Seelenverwandschaft zu finden. Tobias war immer irgendwie existent und dann auch wieder nicht, fast so wie ich. Mit meinen Eltern war ich während meiner Kindheit und Jugendzeit hin und wieder zu Gast im Haus seiner Eltern. Diese Begebenheiten allein, reichten damals wohl kaum für ein näheres Kennenlernen aus, zumal uns auch fast zwanzig Jahre Altersunterschied trennten. Dort wo sie wohnten, in einer kleinen Enklave zwischen Österreich und Deutschland, begegneten sich verschiedene Teile der Familie eher flüchtig. Trotzdem sind mir die paar Begegnungen mit Tobias einigermaßen bewußt in Erinnerung geblieben. Einmal fertigte er von mir, auf Geheiß seines ebenfalls kunstschaffenden Vaters, eine flüchtige Skizze an, die mich im Garten auf irgendeinem Hauklotz sitzend zeigt. Ein anderes Mal unternahm er mit mir und meiner Mutter eine Bootstour in einem gelben Schlauchboot, das er, der Einfachheit halber, aufgeblasen auf dem Dach seines Combis transportierte. Gebannt lauschte ich jahrelang den Geschichten meiner älteren Geschwister, in denen er immer wieder als hundeschlittenfahrender, künstlerisch begabter und sehr weltgewandter Naturbursche auftauchte. Selbstverständlich sind Alpinismus, wilde Tiere und Kunst ein guter Nährboden für die Fantasie junger Heranwachsender, was wohl auch zur Legendenbildung beitrug. Das schöne an Menschen, die man interessant findet, aber über die man wenig weiß, ist, dass die spärlichen Informationen zu ihren Lebensläufen nach Bedarf mit selbsterdachten Mythen ergänzt werden können. Jetzt, wo er endlich vor mir sitzt, mischt sich das Bild, das ich von ihm fantasiert hatte, ganz angenehm mit der realen Person. Typisch für fast alle Familienmitglieder, ist er gleichzeitig nahbar und unnahbar. Auch er scheint die spezielle Nähe-Distanz-Störung zu haben, die vielen, vorallem männlichen Familienmitgliedern zu eigen ist. Nach ein paar Stunden Gemeinsamkeit, muss er erstmal ausgiebig Zeit mit sich selbst verbringen. Ich kann das gut verstehen, da ich von der gleichen Symptomatik betroffen bin. Wenn Tobias mit sich selbst beschäftigt ist, dann macht er Kunst. Malerei, Plastiken, Zeichnungen. Aufrichtig und ernsthaft kreist er mit seinem Output um die eigene Wahrnehmung. Alles scheint dabei vom Standpunkt abzuhängen. Psychologisches mischt sich auf seiner Palette mit mit Physikalischem. Es enstehen dabei ernsthafte Körper, ernsthafte Gebilde, ernsthafte Landschaften und ernsthafte Ansichten. Ob er selbst ernsthaft ist? Das schon. Aber er ist – auf der Suche nach ein wenig Ablenkung von sich selbst – vor einer Weile auf den trockenen Humor des englischen Teils der Familie gestoßen. Das ist übrigens der Grund warum wir uns gegenüber sitzen. Der plötzliche Tod der letzten Schwester meines Vaters, veranlasste Tobias nach weiteren Familienmitgliedern zu suchen. Meine Tante Ursula war anscheinend für ihre gute und völlig unernsthafte Laune weit über den Ärmelkanal hinaus bekannt. Schade, ich hätte sie auch gerne kennengelernt —um mit ihr gemeinsam über den Ernst des Lebens zu lachen.

 

 

keine Kurven

Wo steckt er bloß, der gesunde Menschenverstand? Mir scheint es, als wäre er allgemein abhanden gekommen. Ich jedenfalls, habe ihn seit längerer Zeit nicht mehr gesehen, hier im Park. Sachdienliche Hinweise nehme ich sehr gerne entgegen. Wie ich darauf komme, dass er sich verfleucht hat? —Nun, wer des Öfteren im Grün des Kasseler Stadtparks unterwegs ist, oder auch an weniger zugewachsenen Stellen, dem fällt nach einer Weile der Beobachtung der Spezies Mensch manch sonderbares Verhalten auf. Die wenigen Leser meines Blogs werden sich vielleicht noch an meine Verwunderung erinnern, über die damalige Schwemme der Pokemonisten und die damit einhergehende Zunahme von Risiken im öffentlichen Straßenverkehr. Nun scheint eine viel schwerwiegendere Bedrohung im Anmarsch zu sein, die direkt auf unserere Sinne zielt und die uns scheinbar zu willfährigen Zombies macht. Es ist die schleichende Gewohnheit, die empfindliche physikalische Realität nicht mehr wirklich schätzen zu können. So hart es auch klingen mag: Die erweiterte Realität der Datensammler im Jackentaschenformat scheint das Echte mittlerweile zur Kulisse zu degradieren…

Ein paar Tage ist es her, da haben wir als ganze Kleinfamilie an diesem beschaulichen See, der von einer Bundesgartenschau übrig geblieben ist, gefrühstückt. Richtig idyllisch, mit Nacktbaden und heißem Kaffee. Auf dem Rückweg durch den Park rollten wir, wie immer, über diese kleine Brücke hinter der Kunsthochschule. Die macht da so einen Bogen nach oben, deshalb schafft es Mucki mit seinem Kinderfahrrad noch nicht so ganz aus eigener Kraft über das Gebilde. Oben auf der Rundung angekommen, sehen wir überall Konfetti und Plastik-Goldstreifen herumliegen. Schön. Da gab es bestimmt was zu feiern, denken wir uns. Mucki fällt auf, dass da unter uns, im Wasser der Parkanlage, auch eine Menge von diesem Plastik-Goldstreifen-Zeugs herumschwimmt und kombiniert, dass die Enten das lieber nicht wegfuttern sollten, weil sie sonst Bauchscherzen davon bekämen. In der Tat hat sich unter uns eine Art Aue-Park-Kassel-Goldstreifen-Garbage-Patch gebildet, der sich genau wie das große Vorbild im Pazifischen Ozean nicht einfach von selbst auflöst. Um die Umweltkatastrophe wenigstens auf dem Festland einzudämmen, lesen wir die Golddingse von der Brücke auf, damit die sich nicht auch noch im Wasser wiederfinden. Nach weiteren fünfzig Metern Fahrradfahrt kommen wir den Verursachern auf die Schliche: Einer Schulbusladung halb angetrunkener Pomeranzen, die irgendetwas vom Format eines Massenjunggesellinnenabschieds feiern. Die Taschen voller Beweismittel, versuchen wir sie noch ein wenig zu sensibilisieren, für die Folgen ihrer Umweltsauerei. Leider aussichtslos. Das Instagram-Party-Beweisfoto heiligt anscheinend alle Mittel.

Ein paar Tage später sind wir mit befreundeten Eltern unterwegs. Ich wollte den beiden und ihrer kleinen Tochter auf keinen Fall das kasseler Ausflugsziel Nummer eins, den Bergpark, ersparen. Der Einfachheit halber reisten wir diesmal direkt mit dem Nahverkehr auf der Oberseite des Spektakels an. Nach der kollektiven Erstbesteigung des Mount-Herkules (wir waren diesmal wirklich unglaublich dicht unter seinem Gehänge), ging es für uns nur noch abwärts in den Bergpark. Auf dem Weg nach unten traf ich auf ein Motorradfahrer-Pärchen. Sie fragten mich, nun, da sie ja an der Sehenswürdigkeit angelangt wären, wohin genau sie jetzt am besten gehen sollten. Die beiden machten auf mich nicht gerade den Eindruck, als hätten sie große Lust dazu, bei dreissig Grad im Schatten in ihren dicken Motorrad-Kombis hunderte Stufen runter und wieder hoch zu rennen. —Zumal sie auch erwähten, noch zweihundert Kilometer im Sattel ihrer Bikes schaffen zu wollen. Ich schlug ihnen an Stelle der Besichtigung des Bergparks vor, doch lieber eine kleine Runde durch den Reinhardswald zu cruisen, einem bezaubernden Stück Waldland, zwanzig Kilometer von Kassel entfernt. Erste Gegenfrage: „Gibt es da Kurven?“ Ich, leicht perplex: „Ich glaub schon, aber es ist dort vorallem sehr schön, wegen der unberührten Natur.“ Dann gab sie die Strecke in eine spezielle Biker-App mit Kurvendetektor ein, verzog den Mund: „Mhh, da sieht alles ganz schön grade aus.“ Als sie mich dann noch danach fragte, wie es dort mit Geschwindigkeitskontrollen aussieht, konnte ich nur noch mit den Achseln zucken. Eine Frage blieb mir noch im Kopf zurück: Wieso hatten die nicht auch diese Gratis-Radar-Warn-App installiert, die der Typ hatte, bei dem ich letztlich mitgefahren bin?

Lieferheld

Herr Xiu zwängt sich und sein Fahrrad zwischen den anderen Fahrgästen hindurch in die Straßenbahn. Mit der inneren Ruhe, die nur Asiaten eigen ist, steht er auf dem Platz der normalerweise für Kinderwägen und Rollstühle reserviert ist. Bei jedem Anfahren und Bremsen kommt er ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Seine Gleichgewichtsstörung wird hauptsächlich durch das quadratische Gepäckstück verursacht, das er auf dem Rücken trägt und ihn wie einen großen Schuljungen wirken läßt. Auf dem Rucksack ist der Name eines bekannteren Lieferdienstes aufgedruckt. Auf eine skurile Art unterstreicht die Aufschrift die tatsächliche Heldenhaftigkeit seines Trägers. Möglicherweise betrifft dieses Phänomen jeden Mitarbeiter des Lieferservice‘. Bei Herrn Xiu fiel dies vielleicht nur deshalb so besonders ins Auge, weil der Widerspruch zwischen Branding und Mitarbeiter offensichtlich größer nicht sein konnte.

Herr Xiu kam Anfang der Neunzigerjahre nach Deutschland, ein Jahr nachdem die Studentenaufstände, die auf dem Platz des himmlischen Friedens begannen, von chinesischen Militärs blutig beendet wurden. Als Mitglied einer Arbeiterorganisation war er damals in den Streik gezogen. Nach der Revolte floh er über Hong Kong in Richtung Westen. Seitdem Herr Xiu in Deutschland ankam verlief seine berufliche Karriere nur schleppend. Zunächst heuerte er bei einem Bekannten der Familie an, in einem Chinarestaurant, und verdingte sich dort ganze zwölf Jahre lang als Kellner. Sein eigenes Lokal, ein kleines Running-Sushi, führte er nach Kräften, bevor es vor ein paar Jahren Pleite ging. Seitdem reihten sich die Schicksalsschläge aneinander. Zuerst verließ ihn seine Frau mit den zwei Kindern, danach der Lebensmut. Privat-Insolvenzen sind wie schleichende Krankheiten, die nur durch den konstanten Fluß der Zeit kuriert werden können. Seit gut zwei Jahren galt er offiziell als geheilt, aber was brachte ihm sein neues schuldenfreies Leben? Auf seinem Rücken lastete jetzt, für jeden gut sichtbar, eine andere Bürde. Der Rucksack war zu einem ständigen Begleiter geworden. Er war Zunftsymbol und Stigma, Werbeträger und Werkzeug. Herr Xiu trägt ihn mit Fassung, wie sowieso alles in seinem Leben. Die Fremde, die Einsamkeit, die Monotonie seines Tagesgeschäfts, die allgemeine deutsche Kühle. Um sich während seiner Lieferantentätigkeit das Erklimmen der einen oder anderen Steigung aus reiner Muskelkraft zu ersparen, nimmt er sein klappriges altes Fahrrad manchmal einfach mit in die Straßenbahn. Hinten drin, in seinem Ranzen, transportiert Herr Xiu – neben seinem Schicksal – natürlich auch chinesisches Essen, oder vielmehr das, was man hierzulande dafür hält. Meistens sind es ein paar flüchtig im Wok erwärmte Gemüsestreifen und etwas Fleisch. Schwimmend in Curry-, Thai-, oder süß-saurer Soße gelagert. Darunter Reis oder Nudeln als saugfähige Unterlage. Herr Xiu hat den Geschmack und den Duft der Jiaozi aus seiner Heimat noch nicht vergessen. Handgemachte Mautaschen, die in China in über fünfhundert Varianten zubereitet werden. In Deutschland landen sie eher selten auf dem Teller. Als ehemaliger Gastronom wußte er natürlich auch warum das so war. Echte Jiaozi waren aufwändig in der Herstellung und galten hier, auf eine für Chinesen unnachvollziehbare Art, als nicht chinesisch genug. Auch die anderen Köstlichkeiten, seiner Heimat, sauer-scharfe Kartoffel- oder Kohlgerichte, fanden in der Fremde kaum Anklang. Ganz zu schweigen von den traditionellen Suppengerichten. Herr Xiu´s Blick verliert sich in der Ferne vor der Scheibe der fahrenden Strassenbahn. Plötzlich reißt ihn ein Ruck aus seiner Kontemplation. Diesmal quietschen die Bremsen der Bahn deutlich stärker als bei den  Bremsvorgängen zuvor. Herr Xiu verliert kurz den Boden unter den Füßen, kommt ins Straucheln und klammert sich verzweifelt an die Schulter eines anderen Passagiers. Das Fahrrad scheppert auf den Boden. Herr Xiu rutscht vom Mitfahrer ab und bekommt bäuchlings Bodenkontakt. Schnell rappelt er sich wieder auf, entschuldigt sich ausdauernd beim anderen Fahrgast, liest sein Fahrrad auf und rückt seinen Helden-Rucksack zurecht. Dann steigt er aus und verschwindet spurlos in die Nacht.

Hausbürgermeisterin

Alina Iovanescu hatte zwei Grundsätze von denen sie nie abwich:

  1. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
  2. Nutze die Gelegenheit bevor sie vorbei ist!

Sie hatte viel erlebt, in den letzten Dekaden. Ihr Heimatland Rumänien kannte sie auch aus Sowjetzeiten. Im Gegensatz zu den anderen Ländern des Bündnisses erlaubte sich das Ceaușescu-Regime damals gewisse Alleingänge, unter anderem bescheidene Aussenhandelsbeziehungen zu Deutschland, was bei der Parteiführung in Moskau nicht gern gesehen wurde. Ansonsten war der Wille Ceaușescus eine harte Probe für den Menschenverstand. Weil er seinem Land ein realitätsfernes Strukturprogramm nach dem anderen verordnete, gingen die Ressourcen drastisch zur Neige. Eine Zeit lang wurden Nahrungsmittel nach einer wissenschaftlichen Berechnung des körperlichen Grundumsatzes rationalisiert. Zigaretten der Marke Kent wurden zur härtesten Währung des Landes. Was man unter diesen Umständen lernt: Gemütsruhe. Die Nerven behalten —egal was passiert. Seit einem halben Jahrhundert lebt sie jetzt mit ihrer Familie in einem der riesigen Wohnblocks im Westen von Bukarest. Die Plattenbauten aus Ceaușescus Zeit werden von ihren Bewohnern als vertikale Dörfer empfunden. Auch kleine Gemeinden brauchten Ortsvorsteher, die das Leben in ihnen ordneten. Alina Iovanescu war seit zwanzig Jahren die Hausbürgermeisterin von Block A13, an der Strada Segarcea. Sie hatte ihren Amtsbereich eigentlich ganz gut im Griff. Kannte jeden Bewohner persönlich —genauso wie jeden, der hier ein und ausging. Um sich die Nachvollziehbarkeit der Besucherströme etwas zu erleichtern, und auch um den Überblick über die ordnungsgemäße Müllentsorgung durch die Mieter besser im Auge zu haben, fing sie vor ein paar Jahren damit an, an Knotenpunkten im Haus Kameras zu installieren. Ein gesundes Misstrauen war angebracht in einem Land wie Rumänien. Öffentliche Ordnung ist nämlich dort am wichtigsten, wo sie leicht versagen kann.

Jetzt saß sie im Wohnzimmer ihrer Tochter. Sie war mit ihrem Mann auf Weihnachtsbesuch in Deutschland, die Bescherung ist schon eine Stunde her. Ihr kleiner Enkel spielt zufrieden mit seiner neuen Eisenbahn. Zeit um etwas nach dem Rechten zu sehen, denkt sie sich. Sie zieht einen Tablet-Computer aus ihrer Damenhandtasche, logt sich ins Internet ein und startet ihre Überwachungs-App. Auf dem Bildschirm ploppen zwanzig Kamera-Ansichten auf, auf denen schummrig beleuchtete Szenen zu erkennen sind. Ein Mann huscht von einer Kamera zur nächsten. Erst sieht man ihn vor der Eingangstür stehen, dann wie er über den Flur im Erdgeschoss läuft, wie er in den Lift steigt, wie er im fünften Stock aus dem Lift aussteigt und zu welcher Tür er sich bewegt, wie er kurz klopft, wie ihm die Tür geöffnet wird und wie sich die Tür schließt. „Radko ist spät dran, heute“, sagt sie mehr zu sich selbst. „Er könnte wenigstens am heiligen Abend auf ein paar Bier verzichten.“ Plötzlich sieht man, wie mehrere Personen verstohlen aus ihren Wohnungen huschen, scheinbar haben alle das gleiche Ziel. Nach einer Weile haben sich etwa fünfundzwanzig Leute auf dem etwas besser beleuchteten Foyer im Erdgeschoss eigefunden. —Im Panorama vor der Überwachungskamera. Alle haben der Kamera den Rücken zugedreht. Etwas flakert hinter ihnen auf. Alina verfolgt die Szene mit Argwohn. Was kann das nur bedeuten? Ein Putsch etwa? Kollektive Sabotage ihres Video-Systems? Was macht denn die alte Dorova da hinten? Auf ein Zeichen hin drehen sich alle gleichzeitig um. Jeder hält zwei selbstgemalte Buchstaben in der Hand, dazwischen funkeln Wunderkerzen. Sie liest sich leise vor: „Frohes Fest! Danke für die Anträge!“

Getreu ihrem zweiten Credo: Nutze die Gelegenheit bevor sie vorbei ist!, hatte sie sich vor einer Weile gründlich über die Fördermittel Informiert, die die EU für Sanierungsarbeiten bereitstellte. Sie fand heraus, dass die Bewilligungsverfahren für Fördergelder relativ problemlos abliefen, vorausgesetzt man war mit jemandem in der Gemeindeverwaltung per Du. Das war sie. Jetzt hatte das Teerdach keine Risse mehr und auch die Heizung lief endlich wieder. Alina Iovanescu: Unsere beste Hausbürgermeisterin!

das Örtliche

Selbst sehr beständig sesshafte Menschen, wie ich, brauchen die Luftveränderung wie den Sauerstoff zum Atmen. Zum Glück hat unsere kleine Familie des Öfteren etwas woanders zu tun. Meistens geschieht dies im Namen der Kunst. —Irgendwo gibt es immer eine Ausstellung auf- oder abzubauen. Diesmal waren wir für ein paar Tage in Hamburg. Wie nun jeder weiß, ist Großstadt nicht gleich Großstadt. Bei mancheiner großen Stadt reicht die Größe über die geografischen Bezüge hinaus, klingt im Namen das Besondere des Orts mit, werden Erwartungen, Sehnsüchte und Versprechungen geweckt. Hamburg ist für viele Leute so ein spezieller Ort mit einer wahrnehmbaren Aura, vielleicht sogar mit einer speziellen Form großstädtischer Magie. Bekannte, stilbildende Künstler tun und taten ihr Übriges um das Besondere Image des Orts zu formen. Sie wurden und werden zu den menschlichen Werbeträgern ihrer Heimat: Hans Albers Liederzeilen umwehen diesen Ort, und auch Udo Lindenberg wurde erst in Hamburg zu einem Hamburger Original. Was liegt wirklich in der Luft, zwischen Speicherstadt und Fischmarkt, zwischen Schanze und Blankeneese? Will ich den Bewohnern der Gegend rund um Alster und Elbe womöglich Komplimente machen? Die Sache mit Komplimenten ist, dass sie meistens bloß eine Verneigung bleiben und eigentlich keinen Mehrwert für den Geschmeichelten haben. Sie sind quasi nur die Bestätigung, dass alles bis jetzt toll und richtig und wichtig war. Ich bin nicht so gut in Komplimenten. Wenn man so nach Hamburg hineinrollt, mit der Bahn, wird man allerdings weltmännisch begrüßt, mit einem kurzen Einblick in den Hafen, mit den großen Lagerhallen am Stadtrand und den Containerterminals, die signalisieren, dass gern und viel und vorallem global gehandelt wird. Der Hauptbahnhof ist jedesmal ein Erlebnis. Eine filigrane Stahlkonstruktion im Stil einer gotischen Kathedrale, mit Haupt- und Seitenschiffen, im Gegensatz zum echten Sakralbau aber vollkommen lichtdurchflutet. Platz für Gedanken gibt es hier ausreichend. Vielleicht ist das sowieso ein Hamburg Motto. Die Stadt galt lange Zeit als Hauptstadt der Kreativ-Industrie —jedenfalls was Werbung und Vermarktung anging. Berliner sprechen ihr diesen Ruf mittlerweile gerne ab. Getextet wird hier aber, nach wie vor, ziemlich originell. Das merkt man schon an der Namensgebung lokaler Dienstleister. Fassadenreiger: Besserwischer. Frieseursalon: Frisenleger.

Wir sind in einer Dauerherberge für aufstrebende Kunstschaffende, vornehmlich aus dem Bereich der bildenden Kunst, untergebracht. Fünf Jahre hat man in dieser Artist-Residency Zeit, um den hohen Hamburger Wohnungsmietpreisen zu entrinnen und so etwas Geld in die eigene Kunst stecken zu können. Leider überlegt die Stadt Hamburg gerade das Programm nicht zu verlängern. Was wirklich Schade wäre. Gebannt sehe ich mir die eine und andere Tür im untersten Flur an, in dem auch wir untergebracht sind. Haufenweise Aufkleber, allesamt gegenkulturelle Artefakte aus dem Spektrum: Gender, Anarcho, Frechheiten, Underground-Mucke. Ich lese in den Türen wie in einem Buch. Selten bin ich von Türen so gut unterhalten worden. Ein Aufkleber zeigt einen explodierenden Braunkohle-Bagger. Der Text dazu: Bagger-Boom! Mehr braucht es nicht für die Botschaft. Unser kleiner schwarzer Hund Julla findet das ständige Geraschel und Geklapper im Treppenhaus der Künstlerherberge ziemlich irritierend. Sie macht das, was Hunde machen wenn sie irritiert sind: Sie bellt. In den hohen Räumen hallt das ganz schön laut. Ich gehe mit ihr vor die Tür, damit sie mal nicht dauernd bellen muss. Wir bewegen uns quer durch das Schanzenviertel. Jetzt im Herbst ist es um halb acht abends schon dunkel. Die jungen Verkäuferinnen der Boutiken wirken ziemlich verloren in ihren Leuchtkästen. Mir kommt es vor, als würde hier jeder an seiner eigenen Vision vom Großstadtleben in Hamburg basteln: Die Kids in den Szene-Bars, schick gekleidet, in das Geld ihrer Eltern. Die Bettler, die sich in ihre verlorenen Träume hüllen. Die Business-People in ihren kristallartigen Hochhäusern. Die Besucher der Stadt, die händeringend versuchen den Spirit der Metropole einzufangen. Und die bereits erfahrenen Bewohner des Planeten Hamburg, die abgeklärter wirken, aber ebenfalls nichts verpassen dürfen. Alle sind sich seltsam einig. Man darf die kollektive Illusion der großen Freiheit nicht stören —durch zu viel Realismus.

Schönheitsfleck

Der Mensch ist ein Schönheitstier. Es gibt zahllose Belege dafür, dass er oder sie sich an den Formalitäten von Proportion und Harmonie orientiert. Mal treten diese Vorlieben als mathematisches Verhältnis zu Tage, mal als Nasenbeinkorrektur. Das Augenscheinliche birgt natürlich ebenfalls die Möglichkeit der Augenwischerei. Jedoch, selbst wenn diese schon als enttarnt gilt, tut das der Begeisterung oft keinen Abbruch.

Vor ein paar Tagen wurde mir im Netz ganz unfreiwillig ein Werbeclip vorgespielt, der mein Harmonieempfinden besonders herausforderte. Inmitten der Diskrepanz zwischen Inhalt und äußerer Form, findet sich nämlich oft die eigene Wahrheit. Es ist zutiefst unangenehm, wenn die Sinne geschmeichelt werden und man doch tief in sich drin die Stimme der Aufgeklärtheit den Untertitel sprechen hört. Die Konsumkultur spielt oft mit unserer Sehnsucht nach Harmonie und am Ende wird das Schöne nur als Hebel für die Kaufentscheidung bemüht. Jeder weiß das und trotzdem funktioniert Werbung. Wie wehrt man sich am besten gegen den Missbrauch des Schönen? Gleich wegsehen, verschämt und verlegen, weil es einen doch igrendwie erwischt hat, oder versuchen die Fassung zu bewahren und die Eindrücke mit einem Schutzschild aus Sarkasmus abwehren? Ich wehrte mich nach Kräften, trotzdem bohrten sich die Bilder in mein väterliches Herz. Es war genauso gemeint. Was mich schwach machte: Die traurige Musik, die Bambi-Augen, die glitzernd-schöne Weihnachtsstimmung, die Message… Ohh Mann. Was war zu sehen, zu hören, zu fühlen? Der Plot ist schnell erklärt: Ein kleiner Junge wächst allein mit seiner Mutter in einem Häuschen auf —kleiner und verschrobener als die schicken Bongalows der Nachbarn. Die Mutter, ein bambyäugiges Wesen, ist sehr darum bemüht dem Jungen, mit den wenigen Mitteln, die sie hat, eine Freude zu bereiten. Sie näht ihm ein Eisbärenkostüm, aber die Nachbarskinder in ihren coolen Spiderman-Outfits, lachen ich bloß aus. Sie schlendert mit ihm an einer Eisbahn entlang, auf der die anderen Kinder spielen, aber sie hat kein Geld ihm eine Runde zu spendieren. Als Weihnachten vor der Tüt steht, liegen keine Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Zerstörte Vorfreude in den Augen des Kleinen. Eisbärspuren führen ihn stattdessen zur heimischen Garage. Darin hat ihm die Mutter eine eigene kleine Eisbärenwelt gebaut. Nach der anfänglichen Enttäuschung, setzt die Fantasie des Jungen ein und er fliegt auf dem Rücken eines imaginierten Eisbären durch eine arktische Disney-Zauberwelt. So schön, so gut. Die ganze Zeit wartet man innerlich darauf, dass der anrührende Kitsch durch das eingeblendete Logo einer bekannten Marke endlich eindeutig als Werbung gekennzeichnet wird. Dann die Erlösung! Es erscheint das Signet: Penny. Spruch: Weihnachten braucht nicht viel – Nur Liebe. Das tut echt weh! Weil —man kann es direkt spüren: Der Clip eine echte Wahrheit enthält, aber leider doch nur das Gegenteil will: Unschuldige Kinderherzen unter Pennymarkt-Plastikspielzeug verschütten. Ich war den Tränen wirklich nah. Nur einen Tag später, muss ich wirklich weinen. Mucki sitzt schon am Küchentisch und isst sein geliebtes Nussmußbrot. Nichtsahnend schalte ich das Radio ein. Es läuft dieser Lindenberg-Song mit dem kleinen Jungen. Ein Anti-Kriegslied aus den Achtzigerjahren. Schönheit und Tragik liegen nicht selten nah beieinander: Der eine Junge singt aufrichtig und ernst über Dinge ausserhalb seiner Vorstellungskraft. Der andere kleine Junge hört ihm dabei genau zu. Ich blicke meinen kleinen Jungen am Küchentisch an und weiß, dass ich ihm leider gleich erklären muss, worüber der Junge im Radio singt. Abschalten kann ich das Radio nicht mehr, da die Song-Zeilen schon unwideruflich im Raum stehen. Die Situation ist leider ähnlich. Die Unschuld des Jungen, der den Song singt, wird eigentlich auch nur als Vehikel benutzt: —Um die Botschaft in Form der bittersten Wahrheit über den Menschen möglichst eindringlich zu transportieren. Auch hier spürt man den Zwiespalt zwischen Form und Inhalt und ist trotzdem zutiefst gerührt. Vorallem als Vater der seinem kleinen Sohn jetzt Songtexte erklären muss.

allein im Wald

Die paar Leserinnen und Leser meines Blogs wissen es vielleicht: Ich bin begeisterter Radfahrer. Da ich immer sehr damit beschäftigt bin, die Welt den Irrungen und Wirrungen meines Wesens auszusetzen, braucht die Welt regelmäßig eine Auszeit von mir und ich von ihr. Das Radfahren als Ausgleichssport hat den großen Vorteil, dass man den Grenzen der Stadt schnell entrinnt und draussen auf den entlegenen Wegen selten jemanden trifft. Meistens treiben mich meine sportiven Radausflüchte in nahegelegene Wälder. Dort ist die Luft angenehm frisch, wenn sie über die Blätter der Laubbäume streift. Abgesehen von monotonen Gerumpel der Reifen und der schlackernden Kette, wird der Wald dabei auch zum Ort der Stille. Innere Einkehr ist also durchaus möglich. Manchmal bin ich spät dran mit meinen Runden, besonders wenn ich Abends aufbreche und schon wieder das Ende des Sommers verpasst habe. Vor ein paar Tagen, als die Dämmerung bereits einsetzte und auch ein paar Regetropfen aus dem dunklen Himmel auf meinen Fahrradhelm fielen, war mir das seltsam egal. Ich fuhr einfach los und wusste, dass ich in bald wieder zwischen meinen geliebten Waldbäumen herumradeln würde, abseits von all den Alltagssorgen. Das Restlicht würde schon ausreichen, um meinen Heimweg zu beleuchten.

Wer oft genug draussen in der Natur mit sich selbst zu tun hat, weiß irgendwann genau was geht und was man besser lassen sollte. Es bilden sich Instinkte, die zuverlässig verhindern, dass man irgendwelche Dummheiten begeht. Trotzdem kann es auch einem erfahrenen Waldsportler passieren, dass er die inneren Stimmen kurzzeitig überhört.

Ich rollte auf einer mir sehr bekannten Strecke in den dämmernden Wald hinein, bog – ohne dass ich einen genauen Grund dafür nennen könnte – auf eine technisch anspruchvolle Passage ab, die ich sonst eher mied. Sie führte zwischen wuchtigen Steinblöcken hindurch in Richtung eines kleinen Bachs, regelmässig unterbrochen von halbmeter hohen Absätzen und kleinen Steilstücken. Zum Glück hatte ich das Terrain noch ganz gut memoriert, so dass ich ungefähr wusste wo ich landen würde —auch im Fall eines Falles. Als ich quer auf den Bachlauf stieß, konnte ich noch gerade so erkennen, was vor meinen Fußspitzen lag. Ich überlegte, wie ich am schnellsten wieder weg von dort käme. Weiter unterhalb konnte ich nach einem steilen, kurzen Anstieg eine Hauptverkehrsstrasse erreichen, weiter oberhalb führte eine kleine Brücke über den Bach und nach einem kurzen Schlängelpfad auf einen breiten, geschotterten Weg. Da mir die Strecke weiter abwärts bei den schummrigen Lichtverhältnissen zu riskant schien, schob ich mein Fahrrad langsam bachaufwärts am steilen Ufer entlang. „Wo steckt denn nun diese Brücke?“, fragte mich meine innere Stimme unentwegt. Ich musste viel tiefer gelandet sein als gedacht, oder wirkte der Weg nur viel länger, wenn man ihn nachts ging? Ich war verunsichert. Eigentlich kannte ich mich doch gut aus hier, oder doch nicht? Mehrfach hielt ich umgestürzte Bäume für die gesuchte Brücke. Dann endlich erkannte ich sie im Halbdunkel. Es beruhigte mich ein wenig, zu wissen, dass ich mich gleich wieder auf einem befahrbaren Weg befinden würde. Als ich den Schotterweg erreichte und ihn langsam hinauffuhr, fand ich jedoch das Schild nicht mehr, das mich sonst zu einem nahegelegenen Rasthof führte. Ich bog auf einen  Wirtschaftsweg ab, ahnend, dass dieser Abstecher meine nächtliche Radtour enorm verlängern würde. Am Ende des Weges angekommen, sah ich aus einiger Entfernung die nächstgelegene Ortschaft im Tal, aber es wird mich nicht nach Hause bringen dort hinunter zu fahren, sagte ich zu mir selbst. Ich bog stattdessen links ab, passierte ein abgelegenes Forsthaus und fuhr einen steilen Hang hinauf. Ich erinnerte mich: Weiter oben gab es noch einen Funkturm an dem ich mich orientieren konnte. Aber wo stand der genau? Als ich auf dem Kamm ankam, war er nirgends zu sehen. Ich rumpelte weiter in eine Gegend hinein von der ich wusste, dass man sich in ihr gut verfahren konnte, auch bei Tageslicht. Mitten im Nichts spaltete sich der Weg, ich bog links ab, obwohl mir meine innere Stimme zum Gegenteil riet. Langsam fing ich an die Gerüche der Waldbewohner wahrzunehmen, ein sicheres Zeichen für die totale Waldfinsternis, in der die sonst so vernachlässigte Großstadtmenschennase sich eine echte Aufgabe sucht. Nach ein paar Hundert Metern konnte ich einen ehemaligen Sandsteinbruch erahnen und mir wurde klar, dass ich mich im Kreis bewegte. Als ich mich die Steigung in der entgegengesetzten Richtung zurück rollte, sah ich für einen kurzen Moment die roten Positionslichter des Funkmasten. Das musste der ersehnte Wald-Ausgang sein! Während ich mich schon über ein baldiges Ende meiner nächtlichen Radtour freute, verschwanden die Lichter wieder in der Dunkelheit hinter den Bäumen. Ich überlegte mir, wie ich die Nacht allein im Wald herumbringen könnte, für den Fall, dass ich heute nicht mehr nach Hause fand. Es sollte doch kein Problem darstellen, ein paar kalt-feuchte Stunden auf einem moosbewachsenen Stein herumzusitzen und auf den Sonnenaufgang zu warten… oder war der Wolf schon heimisch in Nordhessen? Allein der Gedanke beschleunigte meinen Tret-Rhytmus wieder. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte der blinkende Turm wieder vor mir auf und mir wurde sehr leicht ums Herz. Bald würde ich meine kleine Familie wiedersehen. Was soll man dazu sagen? Das Microadventure  war wohl zu einem echten Abenteuer mutiert.

Paradies

Fragt man die Leute danach was sie wirklich glücklich macht, bekommt man als Antwort – öfter als gewohnt – die wirklich wichtigen Dinge im Leben genannt: Familie, Freundschaft, Gesundheit. Wenn man die fantasievollen Glücklich-Listen aus Frauenmagazinen als Grundlage für das subjektive Glücksempfinden heranzieht, ergibt sich folgendes Bild:

  • laut Musik hören
  • Prosecco mit Freundinnen
  • frisch gemähtes Gras riechen
  • in die Sterne schauen
  • Sommernächte
  • Hunde streicheln
  • Schokolade
  • Wochenendtrips
  • Kuschelsonntage
  • ausgedehnte Spaziergänge
  • zuhause aufräumen

Mal ganz davon abgesehen, dass – je nach anvisierter Zielgruppe – auch Themen wie Kinderwunsch, richtiger Umgang mit dem Liebhaber, Dekoration des Eigenheims und Zubereitung kulinarischer Köstlichkeiten, mal mehr und mal weniger dominant in Erscheinung treten, muss ich sagen, dass ich mich durchaus repräsentiert fühle. Sollte ich einfach aus Gründen der Selbstbestätigung in Zukunft mehr in Frauenmagazinen blättern? Es ist zumindest ärgerlich, dass ich bei meinem Hausarzt stets so zügig in das Behandlungszimmer gebeten werde, obwohl ich doch viel lieber noch im Wartezimmer weiterlesen möchte. (Nein, ich bin nicht privat versichert, es hat sich bloss noch nicht herumgesprochen wie gut dieser Doktor der Allgemeinmedizin ist.) Das nächste Mal werde ich wohl lieber gleich zum Stapel mit den Frauenmagazinen greifen. Aber was bringt mich eigentlich dazu über das Glücklichsein nachzudenken? Muss man sich darüber eigentlich den Kopf machen?

Manchmal im Leben kommt es ganz auf den Impuls an. Manchmal ziehen die Dinge vor den Augen des Betrachters entlang und dabei drängen sich unweigerlich Fragen auf. Während des letzten Wochenendes sind Reize an meine Sinnesenden gelangt, die so augenscheinlich waren, dass das allgemeine Glück hier unumgänglich zum Thema werden muss. Was war geschehen? Hasi ist der Einladung eines ihr bekannten Keramik-Künstlers gefolgt, der sie eingeladen hatte, doch auch ein paar ihrer Fotoarbeiten während des Tags des offenen Bauenhofs in einem kleinen Dorf in der Nähe Unversitätsstadt Göttingen auszustellen. Natürlich wollten alle Mitglieder unserer kleinen Familie mit dabei sein. Während ich die Gelegenheit nutzte, um eine längere Radtour dorthin zu unternehmen, machte sich der Rest der Mannschaft mit dem Zug auf den Weg. Als wir endlich ankamen, war alles sehr so, wie man sich das mit Leben auf Land vorstellt: Allerlei frei umherlaufende Tiere und Kinder, gutes Essen, interessante Düfte, solidarisches Mitanpacken, eine richtig gemütliche Unterkunft im Landhausstil, dazu interessante Informationen über das gelbe vom Ei und die richtige Ernährung von Legehennen. Es ergab sich ein buntes Wimmelbild aus Dorfbewohnern, befreundeten Bauern, Agrarexperten, neugierigen Großstättern, freundlichen Hunden und Katzen, Bioladenbetreibern und ehemaligen Rockstars, die sich für ein Landleben nach dem Karriereknick entschieden hatten. Am Ende des Tages ging die Sonne sehr stimmungsvoll unter und wir nahmen den Geschmack von leckerem Zuckerkuchen und saftigem Wildbrät, den Duft von Frischen Kräutern und sonnigen Wiesen mit ins Bett. Wir sahen die Sterne heller und viel klarer leuchten als im Smog der Stadt und träumten von Hühnern, die zur Hausmusik des Bauern tanzen. Am nächsten Morgen, während wir frühstückten, zeigte uns unsere Gastgeberin nicht ganz beiläufig ein paar Musikvideos, in denen man bestimmte Besucher des Hoffestes vom Vortag erkennen konnte. Anschließend guckte ich mich noch etwas um. Unsere Gastgeber bewohnten das, was gemeinhin als Anwesen bezeichnet wird: Einen mehrere hundert Jahre alten Bauernhof mit eigener Streuobstwiese und vielen niedlichen Tieren drumherum, die anscheinend nur gehalten wurden, um Kinder und Erwachsene daran zu erinnern, wie weich eigentlich so ein Hasenfell ist und wie schön das eigene Federvieh den Garten dekoriert. Drinnen im Haus roch es nach altem Holz. Nicht muffig, sondern eher nach Familienleben, das durch die Poren in das Holz dringt und als warmer Duft in den Wohnraum zurückströmt. Alle Gegenstände befanden sich in einem seltsamen Zwischenzustand, weder ordentlich noch unordentlich. Vielmehr hatte man den Eindruck, das alles genauso an seinem Ort gehört. Das alles so wie es ist, gut ist. In Gedanken überfliege ich noch einmal die Liste aus den Frauenmagazinen und mache ein Häckchen nach dem anderen. Beim letzen Punkt stocke ich: Nein, aufräumen musste man hier wirklich nichts.