Von Särgen und Tränen

Vor ein paar Jahren fielen mir besondere Lautsprecher in die Hände. Seitdem gibt es kein Entrinnen mehr für mich und meine unterdrückten musikalischen Gefühle. Das ist wirklich schlimm, denn immer müssen Tränen dabei fließen. Wollt ihr die ganze mysteriöse Geschichte? Hier ist sie:

Es ist gut, wenn man als Paar feststellt ähnliche Interessen zu teilen. Sehr schön ist es auch, wenn es dabei eine gewisse Schnittmenge in Sachen musikalischer Vorlieben gibt. In einem frühen Stadium unserer Beziehung gingen Hasi und ich dann und wann gemeinsam in Secondhand-Läden Platten shoppen. Nach nur kurzer Zeit füllte sich ein heimischer Plattenregalmeter mit gebrauchten Siebzigerjahre-Scheiben. Auf einer unserer gemeinsamen Shoppingtouren in einem Trödelladen, musste ich mir kurz die Zeit damit vertreiben das restliche Sortiment zu inspizieren, da Hasi im Eifer ihrer Sammelleidenschaft einen Stapel von mehreren Dutzend alter Scheiben vor der einzigen Abhörmöglichkeit angelagert hatte. Während meiner Runde duch das kleine Ladenlokal, entdeckte ich zwei mannshohe Standlautsprecher ohne Firmenlogo. Gekleidet in angestoßenes Nußbaum-Funier, an einer Seite von der Sonne ausgeblichen, waren sie wirklich keine Schönheiten. Mein Nachfragen über die Herkunft der Geräte brachte keine weiteren Erkenntnisse. Schnell zog ich mein Interesse wieder zurück. Was sollte ich auch mit den komischen Dingern anfangen, ich hatte ja bereits ein paar ordentliche Lautsprecher zuhause.

Zu spät. Zwei Tage danach stand ich wieder in dem Laden um die Schallwandler unbekannter Herkunft pobezuhören. Trotz einiger Verrenkungen, die der Ladenbesitzer auf sich nahm, um die Klangquellen im Sarg-Look mit anderem alten Musikequipment zu verdrahten, war ich eigentlich nicht begeistert von ihrem Sound. Zu diesem Zeitpunkt war mir der Klangeindruck aber fast schon egal. Das lag daran, dass die Musikschränke auf eine unbestimmbare Art meine innere Vorstellung von Lautsprechern spiegelten und mich deshalb magisch anzogen. Ich bezahlte nach kurzem Handeln und vereinbarte sie abzuhohlen, sobald ich einen Umzugswagen dafür frei hätte. Die Klangtruhen brachten nämlich ein gewichtiges Problem mit sich: Jede der Boxen wog, laut Angabe des Ladenbesitzers, so um die 60 Kilo. Das Umzugsauto für den Umzug in unsere erste gemeinsame Wohnung, schien die erstbeste Möglichkeit für den Abtransport. Mein Einstieg in das audiophile Hören war ein echter Sprung ins kalte Wasser, bis auf das hohe Gewicht hatte ich wirklich keine Ahnung was mich erwartete. Über Umwege fand ich heraus, dass es sich bei den Lautsprechern um ein Selbstbauprodukt eines renommierten französischen Herstellers handelte. Die 400 Euro, die ich investierte, waren möglicherweise ein echtes Schnäppchen. Als nach dem geglückten Transport das Paar Boxen und auch das restliche Mobiliar endlich in unserer neuen Wohnung stand, machte sich beim ersten Soundcheck im neuen Zuhause erneut die Ernüchterung breit. Ausgerechnet die Mittelton-Chassis, die als seltene Juwelen gehandelt werden, waren defekt. Aus irgendeinem schicksalhaften Grund verkaufte aber genau zu diesem Zeitpunkt jemand zwei dieser Raritäten auf einem Kleinanzeigenportal. Stichproben ergaben, dass dieses Angebot bis zum heutigen Tag einmalig war. Da mir der Trödelhändler den Differenzbetrag für den Austausch erstattete, stieg in mir erneut die Vorfreude für ein neues Testhören auf. Endlich komplett bestückt —wieder Ernüchterung. Jetzt mit den Mitten klang alles irgendwie zu … mittig. Ich lernte, dass auch ich mich zuerst auf die Suche nach den passenden Audio-Komponenten machen musste. Drei verschiedene alte Verstärker, alle in der Preisklasse um die 70 Euro, waren kurz zu Gast in meiner sogenannten Sigalkette, zwei davon gingen wieder. Die paar Euros, die ich investierte, sind natürlich ein Witz im Vergleich zu den Summen, die normalerweise von dieser Leidenschaft verschlungen werden. Nicht selten fließen in audiophilen Haushalten Gelder in handverlötete Röhrenendstufen und Masselaufwerke, die den Wert eines Eigenheims leicht übersteigen können. Man muss im Leben eben Prioritäten setzen. HighEnd-Liebhaber sind eine spezielle Gattung. Meistens sind es Leute mit elektrotechnischem Wissenshintergrund oder einem Hang zur Esoterik, oder einer Mischung aus beidem. Ein gewisses Maß an übersinnlichen Fähigkeiten wird in diesem Metier vorrausgesetzt: Natürlich kann man hören, ob der Strom sauber ist und selbstverständlich haben Anschlusskabel einen großen Anteil am Klang einer Anlage!

Wo jetzt der Unterschied zum Hören auf einer ganz gewöhlichen Stereoanlage liegt? Das läßt sich leicht beantworten: Ich muss regelmäßig rumheulen wenn ich bestimmte Musik auf diesen besonderen, alten Lautsprechern höre. Dann kullern mir echte Männertränen die Wangen herunter. Das liegt daran, dass diese abgeschabten Dinger die Musiker erst in unsere Wohnung holen, und dann direkt in mein Herz. Das ist mir manchmal wirklich unangenehm. Ich will nicht so oft die Kontrolle über meine Gefühle verlieren. Deswegen benutze ich sie selten, diese kostbaren Audiomöbel.

Anspieltipp:

Marcia Ball – Louisiana 1927

(Tränen auch auf durchschittlichen Lautsprechern möglich)

Märchenstunde

Weil ich unfreiwilliger Abonnent von zwei Technik-Newsfeeds bin, landen regelmäßig kurze Informationstexte über die technische Neuerungen in meinem E-mail-Postfach. Zugegeben: Diese als Unterhaltung getarnte Werbung ist mir auch lieber als die Werbebeilage im Stadtmagazin, weshalb ich sie noch nicht abbestellt habe. Mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier führe ich mir die Inhalte – bei ausreichender Langeweile – ab und an zu Gemüte. Neben anderen Themen, war heute die Ankündigung eines namhaften europäischen Automobilkonzerns dabei, in naher Zukunft, und unter dem Dach einer neuen Marke, ein reines Elektroauto produzieren zu wollen. Ich nenne keinen Namen, denn es bedarf an dieser Stelle keiner herstellermäßigen Unterscheidung. Die Marketingaktivitäten der großen Autobauer sind sich in diesem Punkt alle sehr ähnlich. Digitalisierung und sportliche Performance stehen immer ganz oben auf der Agenda. Man darf mit Superlativen rechnen. Ich lasse mich vom Datenstrom einsaugen und lande schließlich auf dem Video, in dem der erste Wagen der neuen Marke den Vertretern der Fachpresse präsentiert wird. Die Vorstellung beginnt standesgemäß. Nach und nach erscheinen wichtige Repräsentanten der Firma unter dem selbstleuchtendem, übermenschlich großem Logo. Auf einer riesigen, nur schummrig bestrahlten Bühne, werden schließlich zwei Prototypen des Autos feierlich enthüllt. Blitzlichtgewitter und Raunen dringt vom Parkett. Die Märchenstunde beginnt.

Der Vorstandsvorsitzende, ein schneidiger Typ, der ohne Krawatte in einem gelbschimmernden Anzug steckt, erläutert die Vorzüge des neuartigen Gefährts. Begleitet von einer riesigen Beamerpräsentation, die parallel zu seinen Ausführungen im Hintergrund abläuft, wirkt er im ersten Moment wie einer dieser Diplom-Meteorologen vor der digitalen Wetterkarte. In aufwändigen 3D-Animationen wird das neuartige Automobil in seine technischen Bestandteile zerlegt. Als Material, das alles möglich macht, taucht immer wieder das gute alte Carbon (Kohlefaserverbundwerkstoff) auf, das als Wunderwerkstoff gepriesen wird. Die Karosserie würde durch die Verwendung des Leichtbaustoffs nicht nur wesentlich weniger wiegen, sondern auch Verwindungssteifer sein, weshalb man überhaupt erst diese schnittige Coupé-Bauform hätte realisieren können. Der Fortschritt in Kürze: 250 Kilogramm leichter (Als was? Es existiert keine Angabe des Gesamtgewichts.), 45% steifer, etwas tiefer und etwas breiter. Seltsam bleibt, bei soviel Neuartigkeit, allein die Tatsache, dass das man sich beim Anblick der neuen Formsprache ständig an amerikanische Muscle-Cars aus den siebziger Jahren erinnert fühlt. Anscheinend sind diese agressiven Formen ein allgemeingültes Designstatement für Fahrdynamik. Während des Vortrags werden weitere einzigartige Verkaufsargumente aufgezählt. Die „Inner Secrets“ des Antriebsstrangs bestünden aus mehreren superstarken Elektromotoren und Akkus der neuesten Generation (noch) in Kombination mit einem Verbrennermotor, sowie einem speziellen System zur Steuerung der Kraftübertragung. In der Summe: Technische Neuerungen um schneller um Kurven herumzukommen und schneller Beschleunigen zu können, gepaart mit einer famosen Reichweite von 150km. Beeindruckend, nicht wahr? Bei diesen mannigfaltigen Innovationen, fällt es etwas schwer den Blick für das Wesentliche zu behalten. Damit etwas Klarheit in das Dickicht des Novitäten-Dschungels kommt, versuche ich mich kurz an einer Übersetzung des Infotainments in Fakten mit mehr Realitätsbezug:

Um uns Primaten die Elektromobilität schmackhaft zu machen, bedarf es einiger Winkelzüge. Das ist wie mit dem Veganismus. Beides zielt im Grunde auf eine nachhaltige Verhaltensänderung ab, scheitert aber schnell an unserer Unfähigkeit von Gewohntem zu lassen. Die Warenwirtschaft nutzt diese Bewußtseinslücke sehr plump aus —mit Produkten, die uns vorgaukeln, durch sie wäre Veränderung ohne Verhaltensanpassung möglich. Ein Beispiel sind etwa diese veganischen Analogien, also Fleischersatz in Wurst- und Schnitzelform, hergestellt mit Inhaltsstoffen unbekannter Herkunft. Die wichtigste Frage in der Produktentwicklung ist offensichtlich nicht: Wie gut geht neu? Sondern: Woran haben wir uns gewöhnt in den letzten Dekaden? Im Falle von Individualverkehr lautet die Antwort: An Gasfußgeprotze, Ampelrennen, Survival of the drehmomentstärkste Karre. Davon zu lassen fällt schwer, das kann ich echt verstehen. Soziales, umweltverträgliches Miteinander bietet nicht so viel eindeutiges Distinktionspotenzial. Deswegen muss die neuartige Elektrokarre aussehen wie ein blutiges Steak auf Rädern. Umweltfreundlich ist diese Form der Mobilität übrigens keineswegs. Die Herstellung von Kohlefaserverbundwerkstoffen ist eine ziemliche Sauerei. Man erhält hierzu seltsamerweise keine genauen Angaben, aber es wird gemunkelt, dass für die Herstellung des schwarzen Goldes der zwanzigfache Energiebedarf anliegt, wie für die Herstellung von Stahl. Recyclingfähig ist Carbon auch nicht, jedenfalls nicht in den mengenmäßigen Maßstäben der Automobilbranche. Wieso wird es dann eingesetzt? Weil man damit schneller um die Kurven rumfahren kann, selbstverständlich.

Funkloch

Da wo ich aufgewachsen bin, wurde Suburbia potenziert. Wie sollte man eine, vom Ortskern eines Vororts weit entlegene Neubausiedlung sonst am besten nennen? Sub-Suburbia? Ich erinnere mich noch an jedes bauliche Detail meiner Kindheit. Waschbeton, Klinker und Rauputz waren die Grundzutaten des visuellen Feedbacks meiner nächsten Nachbarschaft. Das Leben am Rande der Grauzone hinterläßt jedenfalls mehr prägende Erfahrungen als man zunächst denkt. Die dauernde Reizdeprivation schärft die Sinne, für die Vorgänge hinter den repräsentativen, luftdichten Haustüren. Früh entwickelt man in einer derartigen Kulisse ein Gespühr, oder vielmehr eine Ahnung für soziale Strukturen. Die junge Kinderseele lernt, ob sie will oder nicht, ganz instinktiv, den Unterschied zwischen Freiheit und Hypothek.

Unsere Nachbarn auf der anderen Seite der Straße wohnten alle in riesigen verklinkerten Bungalows, mit steilen, gepflastereten Garagenauffahrten, hatten zwei Kinder und alle den gleichen Nachnahmen. Die Väter hatten alle Oberlippenbärte, die Mütter Dauerwellen. Sie waren alle Kleintierzüchter, CB-Funker oder beides. CB-Funk war damals The Shit. Irgendwer im Ort hatte mal damit angefangen, und kurze Zeit später brach das CB-Virus richtig heftig aus. Alle Kids, die es auf sich hielten, klammerten ihre Kinderfinger um Handfunkgeräte mittlerer Reichweite. Die Geräte wurden slangmäßig als Handgurken betitelt. Keiner ging mehr ohne Handgurke vor die Tür. Emsig wurden die Insider-Kürzel der CB-Szene gepaukt: „Hey, gib mir mal deinen QRB!“ (Wie weit bist du von mir weg?) „Ich versteh dich nicht, hab hier QSM.“ (Störungen) „Du hast bei mir einen S6, ich versteh dich gut.“ (Skala für Empfangsqualität) So hallte das Echo unserer einfachen kindlichen Technikbegeisterung von der einen Seite des Ortes zur anderen. Die mobile Kommunikation unserer Tage wäre soviel lebendiger, wenn der CB-Funk endlich wieder zum festen Bestandteil der Fernsprecherei würde. Man stelle sich nur vor, dass man eigentlich in jedes Gespräch der CB-funkenden Nachbarschaft einsteigen könnte, vorausgesetzt man hätte den richtigen Kanal gewählt. Das wäre total lauschig und würde die Leute wahrscheinlich näher zusammen bringen als Face-Book und Co. Alle wären quasi im Äther vereint. Als ich elf wurde, sind wir, also ich und meine Eltern aus der netten CB-Funk-Idylle weggezogen. In eine größere Stadt ausserhalb der Sendereichweite meiner alten Freunde. Die neue Umgebung war leider ein totales CB-Funkloch. Das war wirklich jammerschade. Die Kids in der Stadt interessierten sich nur für ihre Spielekonsolen und ihre Heimcomputer. Zugegeben, das war – auch für mich – eine interessante bunt-flimmernde Welt, aber so ursprünglich und unmittelbar wie der gute, alte analoge CB-Funk, war danach keine andere elektronische Technologie mehr für mich. Das hat, so glaube ich, mit dem Mythos analoger Fernmeldetechnik zu tun, der immer etwas anachronistisch-abenteuerliches hat. In meiner Privatbibliothek befindet sich ein Buch über Piratensender, inklusive von Bauanleitungen für Sendeverstärker und Antennen. Ohrenzeugenberichte der illegalen Sendebetriebe sind dort genauso dokumentiert, wie das obligatorische Katz und Mausspiel mit der Besatzung der Peilwagen. Ich liebe dieses Buch, weil es die gestorbene Technik so lebendig hält. Ob es heutzutage überhaupt noch Peilwagen gibt, um übermäßig starke FM-Privatsender aufzuspüren? Mit jedem Schritt meiner persönlichen Digitalisierung verlor meine junge Seele ihre Unschuld. Mit dem Kauf meines ersten Mobiltelefons, war es endgültig um mich geschehen. Ich weiß es noch genau, es war eins von diesen PrePaid-Handys in Form einer Fernsehfernbedienung. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, schon damals, auch ohne Knebelvertrag. Ich wußte, etwas passiert mit mir. Etwas, das meine innere Reinheit für immer beschmutzen würde. Seitens der Mobilfunkkonzerne, gab es damals ein unglaublichs Geschacher um die Mobilfunklizenzen. Schnell konnte man die Ahnung bekommen, dass es sich wohl um die einschneidenste Art der Geldvermehrung handeln musste, die mit menschlichen Gewohnheiten einhergehen kann. Das ist natürlich lange, lange her. Seitdem ist die Welt immer kleiner geworden, jetzt passt das Wissen der Menschheit in die Jackentasche. Das wichtige Gefühl der Unerreichbarkeit ist schon fast ausgestorben. Nur noch selten gerät man in Gegenden, in denen man keinen Handy-Empfang hat. Manchmal wünsche ich mir das atmosphärische Rauschen und den schlechten CB-Empfang zurück. Um noch einmal die Vorfreude auf das Unberechenbare zu spüren: Einen guten Freund, fünf Kilometer entfernt, der mich hoffentlich  im Laufe des Tages mit einem X  (der Funkereinladung) zum Gespräch bittet. Over and out.

Designausstellung I

Denke ich an Holland, sehe ich die Bilder der alten Meister, die Schiffe beim Auslaufen zeigen, die endlose Weite einer Landschaft die quasi fießend ins Meer übergeht. Ich habe dabei den Geschmack von Karamelwaffeln und Spekulatius-Brotaufstrich auf der Zunge, beides bedeutende niederländische Erfindungen, neben Coffeeshops und Maasdamer Käse. Jedoch muß ich auch an weitaus weniger schöne Dinge denken, etwa an Frank Rijkaard der Rudi Völler während der WM 1990 in die Wolle rotzt. Tut mir leid, liebe Holländer, aber ich habe diesen Vorfall, den ich live am elterlichen Fernsehgerät mitverfolgen mußte, noch nicht vergessen können. Es waren Szenen, die sich im mein damals noch junges Gehirn eingebrannt haben, die ich leider nicht unseen  machen kann. Aber weiter im Text: Der Holländer beherrscht beides gleich gut: Pragmatismus einerseits und unkonventionelles Denken andererseits. Wer käme sonst auf die Idee einen Landstrich bewohnbar zu halten, der eigentlich unterhalb des Meeresspiegels liegt. Beides, Pragmatismus und Nonkonformität sind die Essenz guter Gestaltung. Kein Wunder also, dass irgendwann auch das sogenannte Dutch Design auf der Landkarte des guten Geschmacks auftauchte. Bis man das Städtchen Eindhoven auf der Landkarte findet, muss man allerdings mit dem Finger eine Weile lang suchen. Eindhoven war einst ein wichtiger Sitz der Elektronik-Branche in Europa. Kurz bevor japanische Branchenriesen den gesamten Mikroelektronikmarkt schluckten, entschied man sich bei Philips die Produktion nach Asien zu verlegen. Das führte zum Leerstand der ehemaligen Produktionsstätten in dem kleinen Örtchen. Da man dort auf soviel Industriebrache keine Lust hatte, entwickelten die findigen Holländer eine Art Strukturreformprogramm mit Schwerpunkt Design. Die ehemaligen Werkshallen wurden nach und nach zu Werkstätten kleiner und größerer Designbüros. Es ist in diesem Sinne nur konsequent, dass man in Eindhoven einmal im Jahr die Dutch Design Week veranstaltet, um die Welt in Kenntnis zu setzten, dass dort in den geräumigen Lofts interessante Dinge passieren. Mein Weg ins flache Nirgendwo führte mich zunächst per Bahn nach Köln, von dortaus ging es mit einem Bus weiter, meine Reise endete fast direkt vor der Kaderschmiede der holländischen Gestalterszene, der Design Akademie Eindhoven,  ebenfalls in einem umgenutzten ehemaligen Verwaltungsgebäude von Philips beheimatet. Mein kleiner Rundgang durch die Welt des Dutch Design beginnt genau hier.

Die Schüler dieser Ausbildungsstätte waren fleißig, überall in den hohen Räumlichkeiten, sind Gegenstände zu entdecken, die von Tatendrang und Eifer durchdrungen sind. Erstmal ankommen. Eine Tasse Kaffee mit Karamellwaffel später, nehme ich die Erzeugnisse der Absolventen unter die Lupe. Ganz egal, ob man nun aufblasbare Fahrräder braucht, oder Sitzmöbel aus marinem Material, geflochtenes Kletterseil als Stauraum für Krimskrams oder selbstgemachte Verbinder, um aus dem Holz-Imitat von Ikea etwas sinnvolles zu bauen: Hier weht der Geist gestalterischer Unbefangenheit. Nachdem eine Maasdamer-Stulle – als kleine Stärkung – ihren Weg in meinen Verdauungstrackt gefunden hat, gibt es eine kleine Führung durch die Produktionsstätte des bekannten Designers Piet Hein Eek. Bekannt wurde Eek mit einem Upcycling-Projekt: Stühle aus alten Fensterrahmen. Mittlerweile will anscheinend jeder Holländer auf so einem Sitzmöbel sitzen, weshalb in ganz Holland alte Fensterrahmen aufgetrieben werden müssen, um das Geschäft am laufen zu halten. In einer Halle ist zu beobachten, dass auch während der DDW die Fließbänder nicht stillstehen. Akribisch werden die Fensterrahmen zu drei mal drei Zentimeter großen Würfeln zersägt. Diese werden zu Beistelltischen verleimt und anschließend großzügig mit Epoxidharz übergossen. Um den Eindruck von Nachhaltigkeit zu erwecken, wurden mehrere Dutzend der leeren Harzeimer zu Skulpturen geschichtet. Zeit für richtiges Essen: Zum Glück wird hier überall Streetfood serviert, um einmal im Jahr eine kleine finanzielle Reserve zu bilden. Weiter gehts zum Hauptschauplatz: Den mächtigen ehemaligen Philips Maschinenhallen am Stadtrand. Die schiere Fülle von Artefakten dort macht einen ganz benommen. Immer wenn zu viel um mich herum los ist, werde ich ziemlich müde. Ich nehme auf einem wasserstrahlgeschnittenem Blechmöbel Platz und fange an zu dösen.

Designausstellung II

Sanft gleite ich ins Traumland, das Stimmengewirr um mich herum wird leiser und leiser. Vor meinem inneren Auge sehe ich wie sich die Werkshallen von Philips wieder mit den Original-Maschinen füllen. Emsige Arbeiter stellen ein Kasettenradio nach dem anderen her. Ich fühle mich, bei soviel Betriebsamkeit, richtig wohl hier, obwohl es nicht gut riecht in meinem Traum, durch Kunststoffverarbeitung und Zinnbad. Plötzlich löst sich das Fabrikationsszenario auf und es erscheinen Heerscharen von Jungdesignern, die damit beginnen, die eben frisch hergestellten Kofferradios auseinanderzunehmen, die Gehäuse zu schreddern und das Granulat zu heißen Kunststoffwürsten zu verarbeiten. Die Würste formen sie zu Sitzmöbeln, die unbequem aussehen und zu großen Lampenschirmen, die die Glühlampen fast komplett umschließen, sodass sie fast kein Licht mehr herauslassen. Dann wird es plötzlich extrem heiß in meinem Traum. Eine Art Glutlawine überrollt das Szenario. Ich flüchte mit den Designern ins Freie. Plötzlich ist alles weg. Der pyroklastische Strom, die Fabrikgebäude, die Designer. Unter meinen Füßen nur Staub. Als ich um mich schaue, sehe ich Menschen mit Tropenhelmen und Expeditionsoutfits. Manche von ihnen hocken in einer Grube und legen mit feinen Pinseln das sandige Erdreich frei. Ich gehe zu einer dieser Ausgrabungsstellen, finde mich selbst mit einem Pinsel in der Hand dort wieder. Ebenfalls damit beschäftigt dem Boden seine Geheimnisse zu entlocken. Etwas wird unter meinem Pinsel sichtbar. Etwas metallisches. Vorsichtig ziehe ich daran. Eine Brosche. Die feine geometrische Struktur verrät mir, dass es sich um einen parametrisch gestalteten, 3D-gedruckten Körper handelt. Bronce. Mir war noch garnicht klar, dass man Bronce 3D-drucken kann. Ich buddle weiter im Sand. Da ist noch etwas, es sieht aus wie der Rand eines Trinkgefäßes. „Späte Designzeit!“ Höre ich jemanden hinter mir sagen. „Wie…?“ „ Ja, das erkennt man an der Regelmäßigkeit des Bandzuges, das ist maschinell entstanden.“ Ich ziehe den Gegenstand aus dem Sand. „Zeigen sie mal her!“ Zögerlich drehe ich mich zu der Gestalt mit dem Tropenhelm um. „Nur zu!“ Lord Tropenhelmchen greift sich die Vase. „Schauen sie mal! Hier sieht man es ganz deutlich, viel zu gleichmäßig für Handarbeit, das ist 21. Jahrhundert. Die fanden das damals originell —handwerkliche Techniken auf CNC-gesteuerte Maschinen zu übertragen.“ „Wer die? “ „Na, die Designer von damals. Das war ja eine Epoche, die eigentlich mit Konsumprodukten übersättigt war. Wir rätseln allerdings noch darüber, was genau hinter der plötzlichen Blüte der Holländischen Designzeit  in der spätklassischen Phase steckt? Wir wissen nicht, ob es unbekannte Mäzene waren, die diese Handwerkskunst förderten, oder ob es eine von wirtschaftlichen Kreisläufen entkoppelte Wertschöpfung gab, die quasi zum Selbstzweck diese Artefakte produzierte? An keiner anderen Fundstelle außerhalb der Asche-Lawine, sind ähnliche Fundstücke aufgetaucht. —Tja, Früher war alles einfacher, da reichte ein Faustkeil, eine Amphore, ein Steigbügel oder ein versteinerter Apple Macintosh um die Welt zu erklären.“ Auf einmal fängt alles heftig zu wackeln an. „Das ist bestimmt ein Nachbeben! Nichts wie weg hier!“ Irgendetwas zieht an meinem Arm. Ich schlage wild um mich. „Mann bist du jetzt völlig behämmert!? Jetzt sind wir durch halb Europa gefahren und hast einen Pipedream,  oder was!?“ Ich habe die Augen wieder offen, schnappe noch nach Luft. Timo, mein Mitfahrer sitzt vor mir. Ich blicke um mich. Keine Glut, keine Asche, kein Staub mehr. Alles sieht wieder aus wie Jetztzeit. „Oh man, Timo! Ich bin wohl schon wieder einfach weggeknackt. Sorry, passiert mir einfach manchmal.“ „Na dann komm jetzt! Ich hab da hinten einen Typen entdeckt, der hat einen Industrieroboter zu einem Riesen-3D-Drucker umgebaut, der macht damit Lampenschirme und ganz coole Stühle aus altem Kunststoff.“

Reklamation

Seitdem Peter Lippold denken kann setzt er sich für die Rechte seiner Mitmenschen ein. Ihm entgeht nichts das zu einer Unausgewogenheit führen könnte, in dem feinen Gefüge zwischen Anspruch und Tatsache. Man kann sich noch genau an sein erstes Auftreten als Rechtsexperte in eigener Sache erinnern, auf dem Postamt Hildesheim-Ost. Lippold hatte die Briefmarken schon bezahlt, als der junge Postbeamte versuchte ihm den Restbetrag in einer kleinen Stückelung von Marken niedriger Centbeträge herauszugeben. Das war ein großer Fehler, wie sich bald herausstellte. Lippold nahm es sehr genau, auch gerade bei kleinen Geschäften mit kleinen Beträgen. Da konnte er schonmal aus der Haut fahren. Er witterte das Unrecht schon meilenweit. Der lautstark zu einer Korrektur seines Verhaltens gemaßregelte Briefmarkenverkäufer nahm die Fünf-Cent-Marken so schnell wieder an sich, wie er sie augehändigt hatte und legte zügig die geforderten Werte auf den Tresen, um einer weiteren Eskalation vorzubeugen. Bei Streitigkeiten mit unzufriedenen Kunden mit Entgegenkommen reagieren, das hatte er in der Verkaufsschulung gelernt. Entgegenkommen war bei Lippold die einzige Chance. Es gab im Groben drei Stadien seiner Rage: Im ersten Stadium durchbohrte er sein Gegenüber mit einem starren, prüfenden Rentnerblick, den man am besten standhaft erwidern sollte. Ein Ausweichen vor diesem Augenkontakt ging sofort in Phase Zwei der Rentnerrage über. Ausweichen bedeutete für Lippold das Eingeständnis einer Unehrlichkeit. Die Ahndung folgte auf dem Punkt. Der kategorische Apell an Aufrichtigkeit, Ehrenhaftigkeit, Genauigkeit und Respekt vor dem Alter. Die großkalibrigen verbalen Mörsergranaten trafen den Gegner wie Geschütze aus der Kaiserzeit, die auf Schienenfahrzeugen bewegt wurden und markig klingende Namen trugen, etwa »Dicke Bertha« oder »Langer Max«. Regte sich im Nest der Widerständler verbale Gegenwehr, kam die dritte Ausbruchsphase der Rentnerrenitenz, dabei wurde das Gehhilfsmittel der Wahl, Gehstock oder Regenschirm, gen Wuthimmel gestreckt, unter Gebrauch von altertümlichen Flüchen, wie: Elender Wicht, ein Flegel sind sie, schämen sie sich, sie Dilletant usw. Diese Tirade konnte eine ganze Weile lang anhalten. Manchmal konnte die schiere Wut nur vom Charme einer zur Hilfe eilenden, gutaussehenden Kollegin des oder der Beschuldigten gemildert werden; ein erprobtes Mittel der Rentnerbesänftigung im Einzelhandel. Einmal mußte bei Lippold auch die Polizei anrücken, um den Streit zu schlichten. Eine Kassiererin im Supermarkt hatte seinen Pfandbon übersehen, der war, wie sich viel später herausstellte, vom Warenförderband eingesaugt worden. In Lippolds Augen ein Versuch von Unterschlagung. Selbst die Martktleitung konnte ihn nicht zur Räson bringen. Sehr zur Verwunderung von Augen- und Ohrenzeugen über die plötzliche Beweglichkeit und Agilität, und das erstaunliche Volumen der Rentnerlunge.

Heute war Lippolds Tag. Vor einer Woche hatte er sich einen stattlichen Flachbildfernseher gegönnt. Einhundertzwanzig Zentimeter Bildschirmdiagonale. Die anfängliche Begeisterung über das heimische Kinoerlebnis wurde jedoch schnell gedämpft. Denn da war er. Es war ihm vor Begeisterung über das Großbild nicht sofort aufgefallen. Aber er war doch zu sehen. Dieser feine Kratzer am Standfuß. Bestimmt zwei Zentimeter lang. Im Morgenlicht, während seiner Lieblingsfrühstücksfernsehsendung, sah man ganz deutlich, dass etwas das Gesamtbild störte. Lippold hatte den Fernseher ganz einfach wieder eingepackt. Das Originalverpacken war für ihn fast schon ein kleines Ritual. Nie hatte er jemals eine Umverpackung eines elektrischen Geräts weggeworfen. Stapelweise türmten sich die Verpackungen auf seinem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Sicher ist sicher. Jetzt stand Lippold an der Straßenbahnhaltestelle, den Karton mit dem Flachbildfernseher auf das nackte Gestell seines Zwiebelporsches geschnallt, die Oberseite mit einem Müllsack vor Regen geschützt. Sein Streitwagen war gerüstet für die große Schlacht. Er war in seinem Element: Transportschaden, nicht selbstverschuldet, Berufung auf Händlergewährleisung, Androhung von Aufstand unter Einbindung örtlicher Medien, schädlicher Mundpropaganda und Lautstärke. Die dicke Bertha war geladen. Ein Lächeln huschte über seine Gesicht.