Seltsam. Ich habe diese Geschichte nun schon zum zweiten Mal gehört. Bei der Verteidigung der Masterarbeit, wären hochrangige, die Prüfung abnehmende Berufsakademiker plötzlich eingeschlafen. Ob dies nur die zufällige Wiederholung eines äußerst seltenen Phänomens ist, oder die übliche Realität an Hochschulen, darüber kann man nur mutmaßen. Zugegeben, der Inhalt so manch einer Abschlussarbeit kann einen schon benommen machen. Möglicherweise wurden auch die ersten Fälle einer neuen Form von Schlafstörung, der Narkolepsia Examensis beobachtet? In meiner eigenen Lebensrealität, ist eine Variante der unakademischen Müdigkeit zu einer ständigen Begleiterin geworden. Sie will, so hat es den Anschein, überhaupt nicht mehr von meiner Seite weichen. Falls ich morgens überhaupt aufwache, trotz Wecker und Unmutsbekundungen meiner Freundin und des kleinen Mucki, befängt sie mich spätestens am Frühstückstisch. Sie legt sich wie ein Schleier über meine Wahrnehmung und verursacht, begleitet von Genussgähnen, verschiedenartigste, sehr angenehme Dämmerzustände. Phasen von nicht-angesprochen-werden-können, die von weiblichen Wesen gerne als Desinteresse gedeutet werden, wechseln sich mit schlichtem Gedöse ab. Die Müdigkeit ist gut zu mir. Sie stimmt mich milde, lullt mich sanft ein, beruhigt die sonst so gereizten Nervenenden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie die Welt erst erträglich macht. Wenn zum Beispiel wieder mal jemand meckert, weil ich schläfrig und viel zu langsam mit dem Fahrrad auf dem Gehweg herumfahre, dann verhallen die Meckerreien einfach in meinem inneren Schlafsaal. Anstatt von bissigen Kommentaren gibt es bei mir bloß ein langgezogenes Gähnen.
Um die Ecke haben wir so eine kleine Bäckerei. Wenn ich es – zu meiner eigenen Verwunderung – morgens um neun dorthin schaffe, um fürs Frühstück einzukaufen, finde ich mich oft in einer Schlange wieder, die nach frischgeduschten Rentnern riecht. Man kennt mich schon. Es reicht mittlerweile vollkommen aus, wenn ich stumm mit dem Finger ans Glas des Bäckereitresens tippe, an die Stelle wo die Franzbrötchen liegen. Die Bäckereifachverkäuferinnen wissen was gemeint ist, auch ohne Worte. „Wieviele dürfen´s denn denn sein?“ Ich hebe müde die Hand. „Aha, drei Stück, das macht dann vier-fünfzig!“ Langsam krame ich ich in meinem Portemonais. Finde einen Fünf-Euro-Schein. Ich wedele gähnend damit herum. Bedeutung: Stimmt so. Die Verkäuferin versteht. „Danke schön!“ Ich weiß, dass die frischgeduschten Rentner hinter mir vor Empörung strammstehen, aber ich bin so früh am Morgen einfach noch nicht in der Lage zu sprechen. Wortlos schleiche ich zur Strasse hinaus. „Auf Wiedersehn!“
Die Inklusion von müden Papas klappt in unserem Haushalt für gewöhnlich ganz gut. Man kocht mir Kaffee und hält mich mit müdigkeitsfreundlichen, nicht zu komplizierten Gesprächsthemen bei Laune. Kaum einer regt sich über die unvermittelte Beschlagnahme von Schlafplätzen auf. Papa liegt im Kinderbett, für einen kurzen Powernap: Kein Kindergezeter. Papa liegt im Hundekörbchen, für einen kleinen Verdauungsschlaf: Kein Gewuffe weit und breit. Papa schläft am Computer ein: Hasi, Mucki und Julla der Familienhund stupsen Papa immer wieder liebevoll an, oder schlecken ihm durchs Gesicht.
Ich kann mich nur wage daran erinnern wann es anfing, mit meiner Müdigkeit. Angeblich war ich schon als Kind sehr ruhig. Mein erstes Richtig Müde hatte ich zu meiner Teenagerzeit. Jeder kennt das: Pubertierende junge Menschen sind einfach immer lethargisch oder müde, oder beides. Rebellion gegen das Elternhaus gelingt nur mit viel Müdigkeit. Ich jedenfalls, bin schon eine ganze Weile lang aus Überzeugung müde. Meiner Meinung nach, ist Müde der neue Punk. Ganz im Ernst: Müdigkeit, insbesondere die tagesandauernde Müdigkeit, ist das letzte Refugium der individuellen Freiheit, der letzte Ort an dem Konzentriertheit keine Chance hat. Der gebetsmühlenhafte Imperativ der Leistungsgesellschaft prallt an der Tagesmüdigkeit ab. Der Dauermüde ist nur bedingt für die Kommandos der Effizienzsteigerung empfänglich, kann nur ganz gelegentlich angesprochen werden, wenn er aus seinen Tagträumen erwacht, was glücklicherweise selten passiert. Das beste ist: Wenn man den Tag müde überstanden hat, bleibt immer noch die Nacht um wach zu bleiben.