allein im Wald

Die paar Leserinnen und Leser meines Blogs wissen es vielleicht: Ich bin begeisterter Radfahrer. Da ich immer sehr damit beschäftigt bin, die Welt den Irrungen und Wirrungen meines Wesens auszusetzen, braucht die Welt regelmäßig eine Auszeit von mir und ich von ihr. Das Radfahren als Ausgleichssport hat den großen Vorteil, dass man den Grenzen der Stadt schnell entrinnt und draussen auf den entlegenen Wegen selten jemanden trifft. Meistens treiben mich meine sportiven Radausflüchte in nahegelegene Wälder. Dort ist die Luft angenehm frisch, wenn sie über die Blätter der Laubbäume streift. Abgesehen von monotonen Gerumpel der Reifen und der schlackernden Kette, wird der Wald dabei auch zum Ort der Stille. Innere Einkehr ist also durchaus möglich. Manchmal bin ich spät dran mit meinen Runden, besonders wenn ich Abends aufbreche und schon wieder das Ende des Sommers verpasst habe. Vor ein paar Tagen, als die Dämmerung bereits einsetzte und auch ein paar Regetropfen aus dem dunklen Himmel auf meinen Fahrradhelm fielen, war mir das seltsam egal. Ich fuhr einfach los und wusste, dass ich in bald wieder zwischen meinen geliebten Waldbäumen herumradeln würde, abseits von all den Alltagssorgen. Das Restlicht würde schon ausreichen, um meinen Heimweg zu beleuchten.

Wer oft genug draussen in der Natur mit sich selbst zu tun hat, weiß irgendwann genau was geht und was man besser lassen sollte. Es bilden sich Instinkte, die zuverlässig verhindern, dass man irgendwelche Dummheiten begeht. Trotzdem kann es auch einem erfahrenen Waldsportler passieren, dass er die inneren Stimmen kurzzeitig überhört.

Ich rollte auf einer mir sehr bekannten Strecke in den dämmernden Wald hinein, bog – ohne dass ich einen genauen Grund dafür nennen könnte – auf eine technisch anspruchvolle Passage ab, die ich sonst eher mied. Sie führte zwischen wuchtigen Steinblöcken hindurch in Richtung eines kleinen Bachs, regelmässig unterbrochen von halbmeter hohen Absätzen und kleinen Steilstücken. Zum Glück hatte ich das Terrain noch ganz gut memoriert, so dass ich ungefähr wusste wo ich landen würde —auch im Fall eines Falles. Als ich quer auf den Bachlauf stieß, konnte ich noch gerade so erkennen, was vor meinen Fußspitzen lag. Ich überlegte, wie ich am schnellsten wieder weg von dort käme. Weiter unterhalb konnte ich nach einem steilen, kurzen Anstieg eine Hauptverkehrsstrasse erreichen, weiter oberhalb führte eine kleine Brücke über den Bach und nach einem kurzen Schlängelpfad auf einen breiten, geschotterten Weg. Da mir die Strecke weiter abwärts bei den schummrigen Lichtverhältnissen zu riskant schien, schob ich mein Fahrrad langsam bachaufwärts am steilen Ufer entlang. „Wo steckt denn nun diese Brücke?“, fragte mich meine innere Stimme unentwegt. Ich musste viel tiefer gelandet sein als gedacht, oder wirkte der Weg nur viel länger, wenn man ihn nachts ging? Ich war verunsichert. Eigentlich kannte ich mich doch gut aus hier, oder doch nicht? Mehrfach hielt ich umgestürzte Bäume für die gesuchte Brücke. Dann endlich erkannte ich sie im Halbdunkel. Es beruhigte mich ein wenig, zu wissen, dass ich mich gleich wieder auf einem befahrbaren Weg befinden würde. Als ich den Schotterweg erreichte und ihn langsam hinauffuhr, fand ich jedoch das Schild nicht mehr, das mich sonst zu einem nahegelegenen Rasthof führte. Ich bog auf einen  Wirtschaftsweg ab, ahnend, dass dieser Abstecher meine nächtliche Radtour enorm verlängern würde. Am Ende des Weges angekommen, sah ich aus einiger Entfernung die nächstgelegene Ortschaft im Tal, aber es wird mich nicht nach Hause bringen dort hinunter zu fahren, sagte ich zu mir selbst. Ich bog stattdessen links ab, passierte ein abgelegenes Forsthaus und fuhr einen steilen Hang hinauf. Ich erinnerte mich: Weiter oben gab es noch einen Funkturm an dem ich mich orientieren konnte. Aber wo stand der genau? Als ich auf dem Kamm ankam, war er nirgends zu sehen. Ich rumpelte weiter in eine Gegend hinein von der ich wusste, dass man sich in ihr gut verfahren konnte, auch bei Tageslicht. Mitten im Nichts spaltete sich der Weg, ich bog links ab, obwohl mir meine innere Stimme zum Gegenteil riet. Langsam fing ich an die Gerüche der Waldbewohner wahrzunehmen, ein sicheres Zeichen für die totale Waldfinsternis, in der die sonst so vernachlässigte Großstadtmenschennase sich eine echte Aufgabe sucht. Nach ein paar Hundert Metern konnte ich einen ehemaligen Sandsteinbruch erahnen und mir wurde klar, dass ich mich im Kreis bewegte. Als ich mich die Steigung in der entgegengesetzten Richtung zurück rollte, sah ich für einen kurzen Moment die roten Positionslichter des Funkmasten. Das musste der ersehnte Wald-Ausgang sein! Während ich mich schon über ein baldiges Ende meiner nächtlichen Radtour freute, verschwanden die Lichter wieder in der Dunkelheit hinter den Bäumen. Ich überlegte mir, wie ich die Nacht allein im Wald herumbringen könnte, für den Fall, dass ich heute nicht mehr nach Hause fand. Es sollte doch kein Problem darstellen, ein paar kalt-feuchte Stunden auf einem moosbewachsenen Stein herumzusitzen und auf den Sonnenaufgang zu warten… oder war der Wolf schon heimisch in Nordhessen? Allein der Gedanke beschleunigte meinen Tret-Rhytmus wieder. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte der blinkende Turm wieder vor mir auf und mir wurde sehr leicht ums Herz. Bald würde ich meine kleine Familie wiedersehen. Was soll man dazu sagen? Das Microadventure  war wohl zu einem echten Abenteuer mutiert.

Paradies

Fragt man die Leute danach was sie wirklich glücklich macht, bekommt man als Antwort – öfter als gewohnt – die wirklich wichtigen Dinge im Leben genannt: Familie, Freundschaft, Gesundheit. Wenn man die fantasievollen Glücklich-Listen aus Frauenmagazinen als Grundlage für das subjektive Glücksempfinden heranzieht, ergibt sich folgendes Bild:

  • laut Musik hören
  • Prosecco mit Freundinnen
  • frisch gemähtes Gras riechen
  • in die Sterne schauen
  • Sommernächte
  • Hunde streicheln
  • Schokolade
  • Wochenendtrips
  • Kuschelsonntage
  • ausgedehnte Spaziergänge
  • zuhause aufräumen

Mal ganz davon abgesehen, dass – je nach anvisierter Zielgruppe – auch Themen wie Kinderwunsch, richtiger Umgang mit dem Liebhaber, Dekoration des Eigenheims und Zubereitung kulinarischer Köstlichkeiten, mal mehr und mal weniger dominant in Erscheinung treten, muss ich sagen, dass ich mich durchaus repräsentiert fühle. Sollte ich einfach aus Gründen der Selbstbestätigung in Zukunft mehr in Frauenmagazinen blättern? Es ist zumindest ärgerlich, dass ich bei meinem Hausarzt stets so zügig in das Behandlungszimmer gebeten werde, obwohl ich doch viel lieber noch im Wartezimmer weiterlesen möchte. (Nein, ich bin nicht privat versichert, es hat sich bloss noch nicht herumgesprochen wie gut dieser Doktor der Allgemeinmedizin ist.) Das nächste Mal werde ich wohl lieber gleich zum Stapel mit den Frauenmagazinen greifen. Aber was bringt mich eigentlich dazu über das Glücklichsein nachzudenken? Muss man sich darüber eigentlich den Kopf machen?

Manchmal im Leben kommt es ganz auf den Impuls an. Manchmal ziehen die Dinge vor den Augen des Betrachters entlang und dabei drängen sich unweigerlich Fragen auf. Während des letzten Wochenendes sind Reize an meine Sinnesenden gelangt, die so augenscheinlich waren, dass das allgemeine Glück hier unumgänglich zum Thema werden muss. Was war geschehen? Hasi ist der Einladung eines ihr bekannten Keramik-Künstlers gefolgt, der sie eingeladen hatte, doch auch ein paar ihrer Fotoarbeiten während des Tags des offenen Bauenhofs in einem kleinen Dorf in der Nähe Unversitätsstadt Göttingen auszustellen. Natürlich wollten alle Mitglieder unserer kleinen Familie mit dabei sein. Während ich die Gelegenheit nutzte, um eine längere Radtour dorthin zu unternehmen, machte sich der Rest der Mannschaft mit dem Zug auf den Weg. Als wir endlich ankamen, war alles sehr so, wie man sich das mit Leben auf Land vorstellt: Allerlei frei umherlaufende Tiere und Kinder, gutes Essen, interessante Düfte, solidarisches Mitanpacken, eine richtig gemütliche Unterkunft im Landhausstil, dazu interessante Informationen über das gelbe vom Ei und die richtige Ernährung von Legehennen. Es ergab sich ein buntes Wimmelbild aus Dorfbewohnern, befreundeten Bauern, Agrarexperten, neugierigen Großstättern, freundlichen Hunden und Katzen, Bioladenbetreibern und ehemaligen Rockstars, die sich für ein Landleben nach dem Karriereknick entschieden hatten. Am Ende des Tages ging die Sonne sehr stimmungsvoll unter und wir nahmen den Geschmack von leckerem Zuckerkuchen und saftigem Wildbrät, den Duft von Frischen Kräutern und sonnigen Wiesen mit ins Bett. Wir sahen die Sterne heller und viel klarer leuchten als im Smog der Stadt und träumten von Hühnern, die zur Hausmusik des Bauern tanzen. Am nächsten Morgen, während wir frühstückten, zeigte uns unsere Gastgeberin nicht ganz beiläufig ein paar Musikvideos, in denen man bestimmte Besucher des Hoffestes vom Vortag erkennen konnte. Anschließend guckte ich mich noch etwas um. Unsere Gastgeber bewohnten das, was gemeinhin als Anwesen bezeichnet wird: Einen mehrere hundert Jahre alten Bauernhof mit eigener Streuobstwiese und vielen niedlichen Tieren drumherum, die anscheinend nur gehalten wurden, um Kinder und Erwachsene daran zu erinnern, wie weich eigentlich so ein Hasenfell ist und wie schön das eigene Federvieh den Garten dekoriert. Drinnen im Haus roch es nach altem Holz. Nicht muffig, sondern eher nach Familienleben, das durch die Poren in das Holz dringt und als warmer Duft in den Wohnraum zurückströmt. Alle Gegenstände befanden sich in einem seltsamen Zwischenzustand, weder ordentlich noch unordentlich. Vielmehr hatte man den Eindruck, das alles genauso an seinem Ort gehört. Das alles so wie es ist, gut ist. In Gedanken überfliege ich noch einmal die Liste aus den Frauenmagazinen und mache ein Häckchen nach dem anderen. Beim letzen Punkt stocke ich: Nein, aufräumen musste man hier wirklich nichts.