Märchenstunde

Weil ich unfreiwilliger Abonnent von zwei Technik-Newsfeeds bin, landen regelmäßig kurze Informationstexte über die technische Neuerungen in meinem E-mail-Postfach. Zugegeben: Diese als Unterhaltung getarnte Werbung ist mir auch lieber als die Werbebeilage im Stadtmagazin, weshalb ich sie noch nicht abbestellt habe. Mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier führe ich mir die Inhalte – bei ausreichender Langeweile – ab und an zu Gemüte. Neben anderen Themen, war heute die Ankündigung eines namhaften europäischen Automobilkonzerns dabei, in naher Zukunft, und unter dem Dach einer neuen Marke, ein reines Elektroauto produzieren zu wollen. Ich nenne keinen Namen, denn es bedarf an dieser Stelle keiner herstellermäßigen Unterscheidung. Die Marketingaktivitäten der großen Autobauer sind sich in diesem Punkt alle sehr ähnlich. Digitalisierung und sportliche Performance stehen immer ganz oben auf der Agenda. Man darf mit Superlativen rechnen. Ich lasse mich vom Datenstrom einsaugen und lande schließlich auf dem Video, in dem der erste Wagen der neuen Marke den Vertretern der Fachpresse präsentiert wird. Die Vorstellung beginnt standesgemäß. Nach und nach erscheinen wichtige Repräsentanten der Firma unter dem selbstleuchtendem, übermenschlich großem Logo. Auf einer riesigen, nur schummrig bestrahlten Bühne, werden schließlich zwei Prototypen des Autos feierlich enthüllt. Blitzlichtgewitter und Raunen dringt vom Parkett. Die Märchenstunde beginnt.

Der Vorstandsvorsitzende, ein schneidiger Typ, der ohne Krawatte in einem gelbschimmernden Anzug steckt, erläutert die Vorzüge des neuartigen Gefährts. Begleitet von einer riesigen Beamerpräsentation, die parallel zu seinen Ausführungen im Hintergrund abläuft, wirkt er im ersten Moment wie einer dieser Diplom-Meteorologen vor der digitalen Wetterkarte. In aufwändigen 3D-Animationen wird das neuartige Automobil in seine technischen Bestandteile zerlegt. Als Material, das alles möglich macht, taucht immer wieder das gute alte Carbon (Kohlefaserverbundwerkstoff) auf, das als Wunderwerkstoff gepriesen wird. Die Karosserie würde durch die Verwendung des Leichtbaustoffs nicht nur wesentlich weniger wiegen, sondern auch Verwindungssteifer sein, weshalb man überhaupt erst diese schnittige Coupé-Bauform hätte realisieren können. Der Fortschritt in Kürze: 250 Kilogramm leichter (Als was? Es existiert keine Angabe des Gesamtgewichts.), 45% steifer, etwas tiefer und etwas breiter. Seltsam bleibt, bei soviel Neuartigkeit, allein die Tatsache, dass das man sich beim Anblick der neuen Formsprache ständig an amerikanische Muscle-Cars aus den siebziger Jahren erinnert fühlt. Anscheinend sind diese agressiven Formen ein allgemeingültes Designstatement für Fahrdynamik. Während des Vortrags werden weitere einzigartige Verkaufsargumente aufgezählt. Die „Inner Secrets“ des Antriebsstrangs bestünden aus mehreren superstarken Elektromotoren und Akkus der neuesten Generation (noch) in Kombination mit einem Verbrennermotor, sowie einem speziellen System zur Steuerung der Kraftübertragung. In der Summe: Technische Neuerungen um schneller um Kurven herumzukommen und schneller Beschleunigen zu können, gepaart mit einer famosen Reichweite von 150km. Beeindruckend, nicht wahr? Bei diesen mannigfaltigen Innovationen, fällt es etwas schwer den Blick für das Wesentliche zu behalten. Damit etwas Klarheit in das Dickicht des Novitäten-Dschungels kommt, versuche ich mich kurz an einer Übersetzung des Infotainments in Fakten mit mehr Realitätsbezug:

Um uns Primaten die Elektromobilität schmackhaft zu machen, bedarf es einiger Winkelzüge. Das ist wie mit dem Veganismus. Beides zielt im Grunde auf eine nachhaltige Verhaltensänderung ab, scheitert aber schnell an unserer Unfähigkeit von Gewohntem zu lassen. Die Warenwirtschaft nutzt diese Bewußtseinslücke sehr plump aus —mit Produkten, die uns vorgaukeln, durch sie wäre Veränderung ohne Verhaltensanpassung möglich. Ein Beispiel sind etwa diese veganischen Analogien, also Fleischersatz in Wurst- und Schnitzelform, hergestellt mit Inhaltsstoffen unbekannter Herkunft. Die wichtigste Frage in der Produktentwicklung ist offensichtlich nicht: Wie gut geht neu? Sondern: Woran haben wir uns gewöhnt in den letzten Dekaden? Im Falle von Individualverkehr lautet die Antwort: An Gasfußgeprotze, Ampelrennen, Survival of the drehmomentstärkste Karre. Davon zu lassen fällt schwer, das kann ich echt verstehen. Soziales, umweltverträgliches Miteinander bietet nicht so viel eindeutiges Distinktionspotenzial. Deswegen muss die neuartige Elektrokarre aussehen wie ein blutiges Steak auf Rädern. Umweltfreundlich ist diese Form der Mobilität übrigens keineswegs. Die Herstellung von Kohlefaserverbundwerkstoffen ist eine ziemliche Sauerei. Man erhält hierzu seltsamerweise keine genauen Angaben, aber es wird gemunkelt, dass für die Herstellung des schwarzen Goldes der zwanzigfache Energiebedarf anliegt, wie für die Herstellung von Stahl. Recyclingfähig ist Carbon auch nicht, jedenfalls nicht in den mengenmäßigen Maßstäben der Automobilbranche. Wieso wird es dann eingesetzt? Weil man damit schneller um die Kurven rumfahren kann, selbstverständlich.

Aloha

Es gibt für alles einen guten Grund. Wenn man sich den Jahresurlaub aufspart, um ihn in einen ganz besonderen Moment zu verwandeln, zum Beispiel. Mein Schwiegervater in spe, der Dieter, hat es im Laufe der Jahre geschafft den Individualsport zu seiner ganz persönlichen Sache zu machen. Nicht unter der Ausblendung der Möglichkeit, dass der Individualsport die Menschen ebenfalls in großen Mengen zusammenbringen kann. Mehrere Teilnahmen an Marathon und Triathlonveranstaltungen pro Jahr wurden für Dieter selbstverständlich. Dieter ist für mich, ob seiner strammen Fitness, zu einer eigenen Marke geworden. Wann immer ich einen älteren Herrn zügig und zielstrebig in der Gegend umherlaufen sehe, gut gebräunt und topfit, sehe ich einen Dieter. Seine Liebe zum Breiten- oder – je nach Blickwinkel – Extremsport ging sogar soweit, dass er seine eigene Laufveranstaltung ins Leben rief. Er nannte sie damals in Anlehnung an ein bekanntes Großevent den Rheingau-Man. Es gibt aber im Leben eines begeisterten Ausdauermehrkämpfers den Punkt, an dem das Original zum Original kommen muss. Leider klappte die Qualifikation für die eigene Teilnahme an der berühmt-berüchtigten Mehrkampfveranstaltung auf der Hauptinsel von Hawaii nicht auf Anhieb. Ein Wermutstropfen. Selbst in der Altersklasse von 60+ ist der Konkurrenzdruck gewaltig gestiegen. Dieter hatte alles gegeben. Extratrainigseinheiten, Ernährungsumstellung, leichteres Material, neue Sportoberbekleidung, es half nichts. Je extremer der Sport, desto empfindlicher wird der Athlet für unberechenbare äußere Faktoren, wie Temperatur, Luftdruckschwankungen, stellare Konstellationen. Ein leichtes Unbehagen kann sich schnell in eine ernstzunehmende Magenverstimmung wandeln. Der Betreuerstab, aus Anita, meiner Schwiegermutter in spe bestehend, hatte wie immer versucht den gröbsten Unbill von ihrem Schützling fernzuhalten. Es nutzte alles nichts, es sollte irgendwie nicht sein. Trotz allem, die Fernreise an das Ziel so mancher Träume war schon lange gebucht und würde nun bald auch angetreten. Zu den Hürden der verhagelten Qualifikation, gesellten sich nun auch unsportliche Hürden, wie das leidige Verständigungsproblem. Hasi und Ich versuchten Anita und Dieter, beide des Englischen, politsystembedingt, nicht zu hundert Prozent mächtig, zu unterstützen wo es nur ging. Zum Glück hält die Welt mobiler Kommunikationstechnik mittlerweile für jedes Problem die passende Lösung bereit: Ich entdeckte im Internet eine Software, mit der man einem Smartphone das direkte Dolmetschen beibringen kann. Diese wurde, bei einem Besuch der beiden, im Kreise unserer kleinen Familie, versuchsweise installiert. Leider nur als Testversion. Eventuelle Dialoge müssten knapper ausfallen als gewohnt. Pro Tag waren nur fünf Sätze erlaubt. Egal. Mit der Zuversicht, in Zukunft nicht mehr alle Strophen des bekannten Udo-Jürgens-Hits mitsingen zu müssen, stiegen sie in den Flieger. Der transportierte sie, mitsamt ihrer Vorfreude im Handgepäck, einmal um den halben Erdball nach Hawaii. Nach einem kurzen Zwischenhalt in Canada ging es weiter Richtung Südsee. Dort angekommen, wurde die Gegend zunächst gründlich unter sportlichen Kriterien, wie Streckenbeschaffenheit und Renntauglichkeit inspiziert. Wenn man schon selber nicht an den Start gehen kann, müssen zumindest Basisinformationen für eine sportliche Expertise gewonnen werden. Der E-Mail-Kontakt versorgte uns mit tagesaktuellen Updates über das Paradies aus Palmen, Sand, Vulkangestein und Rennstrecken. Einen Tag bevor das große Rennen begann, bekamen wir genaue Handlungsanweisungen. Wir dürften auf keinen Fall den Live-Mitschnitt der Rennveranstaltung verpassen —man hätte sich da etwas überlegt. Der große Zeitunterschied machte das direkte Mitverfolgen der Liveübertragung für unsere kleine Familie leider unmöglich. Jedoch wurde das Material der Aufzeichnung tags darauf ausdauernd und intensiv gesichtet. Was konnten sie nur gemeint haben mit ihrer letzten Botschaft? Immer wieder wurde das Videomaterial auf Hinweise gefiltert. Dann erhärtete sich der Anfangsverdacht. Im Zieleinlauf, drei Meter vor der Zielfahne, waren sie zu sehen. Zwei kleine Deutschlandfähnchen, die heftig geschwenkt wurden. Nicht ganz unpassend: Wurden doch die ersten drei Plätze von Deutschen belegt. Als sie gelöst und noch besser gebräunt als sonst, wieder in heimischen Gefilden angekamen, fand unser Verdacht seine Bestätigung. Auch auf einer Doppelseite eines bekannten Triathlon-Magazins waren die Fähnchen deutlich hinter dem Gewinner des diesjährigen Ironman zu sehen, die Fahnenschwenker indes auch dieses Mal nicht. Manchmal reicht es einfach zu wissen, das man wirklich da war. Dabei sein ist alles.

Fitness

Manchmal reicht es einfach nicht, den ganzen Tag müde zwischen den Datenströmen rumzuhängen. Zwischen den vielen Instagram- und Facebook-Posts, der Lektüre von Lifestyle- und Modeblogs, und abertausenden WhatsAppNachrichten wird leicht vergessen, dass da noch etwas ist, was das Smartphone hält. Dieses Etwas, so nutzlos es manchmal auch wirkt, will von Zeit zu Zeit bewegt werden. Ja, es ist, so ganz real und ohne Bildbearbeitung nicht immer schön. Es beherbergt diverse unverständliche Stoffwechselprozesse, die zu Gerüchen führen können, zur Absonderung von Schweiß und anderen Abbauprodukten. Das mag manch einem oder manch einer nicht gefallen, aber die Evolution der letzten paarhunderttausend Jahre hat es einfach nicht besser hingekriegt. Die aktuelle Hardware ist mit Homo sapiens  gelabelt, was soviel wie »der weise Mensch« bedeutet, ob damit auch der Körper gemeint ist, bleibt unklar. Es wirkt auf den ersten Blick etwas unsmart, dieses Gebilde, so ganz nackt ohne Bluetooth und WLAN. Kompatibilitätsprobleme mit dem Lebensumfeld der Hypermoderne wurden – Natur sei Dank – nicht rechtzeitig genug durch Firmware-Updates korrigiert. Ziemlich schlechter Service. Wenn Samsung zwanzigtausend Jahre lang keine Softwareupdates liefern würde, wäre das ein firmenvernichtender PR-Supergau. Der eigene Körper, er passt irgendwie so garnicht mehr in die cleane Welt des Internets. Am liebsten hat man ihn heutzutage als bearbeitbare, vermarktbare Oberfläche. Als Projektionsfläche für die Erzeugung des eigenen Image. Wozu sollte dieses, von Sehnen, Knochen und ein paar Bandscheiben zum aufrechten Gang gezwungene Ding sonst noch nützlich sein? Web 2.0 gegen Body 1.0, wie lange das wohl noch gut geht?

Vor ein paar Tagen wurde ich zum Augenzeugen einer stadtbekannten Laufveranstaltung. Da waren sie real zu sehen. Angestrengte Körper. Leidende Körper. Schwitzende Körper. Nein, schön sind sie nicht immer, diese Körper. Auch die trainierten. Im Netz sieht das alles immer so leicht aus, Basejumping, Freeclimbing, Parcour mit Selfie-Drohne. Gefilmte Power-Workouts von von Superbarbies und Superkens. Der Körper, scheinbar geht das nur noch von außen, unter medialer Beobachtung. Sehr zum Glück der hart Trainierenden, erlaubt die heutige Mess- und Datenverarbeitungstechnik auch öffentliche Einblicke auf Leistungskurven und Trainingsparameter. Das macht nicht nur den sportlichen ShowOff  einfacher, sondern führt endlich zum ersehnten Ziel aller Krankenkassen: Der Einheit aus Körper und Datensatz.

Einfach nur Joggen, um das Knirschen der Kieselsteine unter den Sportschuhen zu hören: Ziemlich uncool. »Bitte bei Frischluftaktivitäten immer des Smartphone mitführen!« So steht es jetzt auf Schildern am Eingang des Parks. Allein das Laufen ist langweilig. Nur die individuelle BigData-Playlist auf Spotify  macht die Bewegung an frischer Luft irgendwie erträglich. Eins sein müssen mit dem Körper, mit dem Geschnaufe der Lungenflügel, mit dem Pochen des eigenen Pulses, mit den ständigen Vibrationen, die die laufende Bewegung auf der Erdoberfläche erzeugt: Es ist kaum auszuhalten. Das alles womöglich mit Gegenwind, Kälte, Regen und Schmutz dazu. Gerade Schmutz: Die Natur ist voll davon. Mehrere hundert Millionen Bakterien pro Tropfen Schlamm. Das ist höchst fahrlässig. Die Natur hat Schwein, dass sie ihr Unwesen nicht in Amerika treibt, sonst wären die Klagesummen astronomisch.

Wie ich zu meinem Körper stehe? Wie soll ich das nur beschreiben, so einfach aus mir selbst heraus? Gut, das Geknirsche der Kiesel beim sportlichen Trab im Park nervt mich auch. Deswegen laufe ich nur selten im Park. Meistens renne ich, wenn ich davon bedroht bin eine Verbindung des öffentlichen Personennahverkehrs zu verpassen. Ich bevorzuge stattdessen, wie die nicht vorhandenen Leser meines Blogs wissen müssten, die zweirädrige, nicht motorunterstützte, Fortbewegung per Fahrrad. Nicht nur zu Zwecken des Sports, sondern auch ganz im Allgemeinen zum Transport meines Körpers. Das ist manchmal anstrengend. Es wird auch immer anstrengender. Das Alter, ich meine es schon zu spüren. Nicht dramatisch, aber bemerkenswert. Vielleicht ergibt die Gleichung aus nachlassender Kraft mal  Lebensalter gleich  Lebenswiderstand doch Sinn? Vielleicht besteht der Mehrwert darin, es durch die Überwindung von Widerstand stärker zu spüren zu können, das Leben. Auch durch die Bewegung, die immer schwerer fällt. Das erfordert die Überzeugung, den Willen und den Mut zu sich selbst zu stehen und sich immer noch spüren zu wollen. Keine schlechten Eigenschaften, wie ich finde.